Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
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Rudi von Wurstig war beileibe kein Kind von Trübseligkeit. Deshalb machte er sich auch sogleich nach seinem Heraustreten in die freie Natur keine Gedanken mehr über die gegen ihn gerichteten Attentatspläne der städtischen Oligarchie, sondern drehte sich vergnügt eine Zigarette, wandte sich schnurrend an eine Gruppe Omis auf Einkaufsbummel, um diese mit einem jammervoll gekrächzten „Habn se vielleicht mal 'n Euro für'n armen kranken Mann?“ in die Flucht zu schlagen und schlenderte dann gemütlich in Richtung Stadtpark, wo er eine Gruppe bunter, Bier trinkender Gestalten um eine Bank versammelt wahrgenommen hatte. Er gesellte sich zu ihnen und wurde auch sogleich mit einem freudigen „Hallo, alter Penner!“ – begrüßt und zu einem guten Schluck Sternburger eingeladen.
Die Bezeichnung „alter Penner“ war natürlich eine Ehrenbezeugung und keinesfalls als Beleidigung gemeint, denn Rudi genoß als dienstältester antikapitalistischer Kämpfer vor Ort ein besonders hohes Ansehen innerhalb des kleinen Grüppchens „Autonomer“, das sich in dem trauten Städtchen formiert hatte und sich seit längerer Zeit in einem zermürbenden Kleinkrieg mit der sich rasch vermehrenden Rotte Neonazis im „Gau Oberes Erzgebirge“ befand. Wegen ihrer persönlichen Wohnungsnöte und aus strategischen Verteidigungsgründen hatten die ausbeutungsresistenten Jugendlichen ein unbewohntes Haus in der Vorstadt unter „revolutionäre Kontrolle“ genommen. Da die Eigentumsverhältnisse über die alte Villa noch immer ungeklärt waren, war es den städtischen Behörden bis dato noch nicht gelungen, „dieses Kommunardengesindel“ – wie es Bgm. Kuhn beliebte, sich auf seine geradlinig schwäbische Art auszudrücken – aus ihrem „Drecknest“ zu vertreiben, das den guten Ruf der ehrenwerten Stadt so schwer beschädigte. Am schlimmsten aber enervierte es das Stadtoberhaupt, daß das Pack es wagte, in unregelmäßigen Abständen Rockkonzerte und Diskussionsforen in ihrem notdürftig in Stand gesetzten Gemäuer zu veranstalten, ohne die Feuerwehr zu informieren oder das zuständige Ordnungsamt um eine behördliche Genehmigung zu bitten. Leider wurde aber auch die aus der städtischen Kasse insgeheim geförderte Gegenveranstaltung, der von der Nationalen Alternative betriebene „Jungs- und Mädel-Treff“ im renovierten Sanitärgebäude des städtischen Müllabladeplatzes, nicht der Renner, wie sich ihn das NPD-Stadtratsmitglied Bodo Horstmann eigentlich erträumt hatte. Sein eigens dafür formierter Soldatenlieder-Gesangsverein „Alter Fritz“ war wegen Erfolgslosigkeit und aus Senilitätsgründen wieder aufgelöst worden. Der Frakturdruck aus den alten über zwei Weltkriege geretteten Kadetten-Gesangsbüchern hatte sich letztlich als eine schier uneinnnehmbare Hürde erwiesen, der die spärlichen Müllplatz-Auftritte des Ensembles von vornherein zu verlegenen Summsarumsumm-Gesängen verkommen ließ, über die selbst die zahnlose Nazi-Else, der nach 1990 wieder aus dem Westen aufgetauchten Witwe des 1944 im Endkampf in die Bleiche gefallenen städtischen HJ-Leiters Balduin Puff, lauthals lachen mußte. Dem energischen Einspruch des Rottenführers Ronny Geyer war es schließlich zu verdanken gewesen, daß der nationale Barde und Schnulzensänger Rudolf Hirschel engagiert wurde, der die ersten fünfundachtzig Strophen des „Heiligobnd-Liedes“ auswendig sowie das „Deitsch und frei“ rückwärts und mit Füsilier-Augenbinde versehen zu interpretieren verstand. Da sich aber Hirschel-Rud, wie er von seinen Kameraden liebevoll genannt wurde, zum wiederholten Male bei fortgeschrittener Stunde die Hosen heruntergelassen hatte, mußte auch dieser treudeutsch-heimatverbundene Erfolgsact für einige Zeit auf Eis gelegt werden und DiscJockey Herbert Kunert aus dem benachbarten Dorf Z. als Notaushilfe engagiert werden: DJ Herby brachte es binnen kürzester Zeit zuwege, auch die hartgesottensten Raufbolde zur Alkoholabstinenz, herbeigeführt durch Einschlafen, zu bewegen. Der größte Teil der einheimischen Jugend strömte seither wieder ins „besetzte Haus“, obwohl der Bürgermeister im Stadtblatt eindringlich vor dieser „jugendverzehrenden Opiumhöhle“ gewarnt hatte.
Doch zurück zu unseren wackeren Arbeitsverweigerern im Stadtpark: drei Jungen und zwei Mädchen nebst fünf Hunden und einer dressierten Ratte hatten sich hier zusammengefunden, um ihre morgendliche Kriegsberatung am späten Nachmittag abzuhalten. Rudi war genau im rechten Moment hinzugekommen, denn seinem strategischen Gespür trauten sie am meisten. Sein bedauerlicher Unfall hatte sich in der „Szene“ bereits herumgesprochen und nun war man gerade dabei, Rachepläne gegen den verhaßten Nazihaufen zu schmieden.
Bomben-Jack, der Jugendliche mit dem höchsten Hahnenkamm in der Stadt und größter Heißsporn des „Terrorkommandos Brennnessel-Piraten“, wie sich die Punker- und Pennerbande auf Vorschlag Rudis seit kurzem nannte, schlug mit grimmiger Miene sogleich vor:
„Wir stauen den Fluß über Nacht und fluten dann im Morgengrauen den Müllplatz.
Eine kleine Bombe dürfte genügen, das Wasser in die richtige Bahn zu lenken.
Das könnte ich im Handumdrehen mit zwei Kumpels erledigen und heja he, das ganze Rattenpack würde mit einem einzigen Schwall weggespült.“
Lese-Ratti, ein brunettes Mädchen von gerade einmal siebzehn Jahren, die ihren Spitznamen der andauernden Lektüre von Taschenbüchern und ihrer großen Liebe zu ihrer Ratte Franzel zu verdanken hatte, die sie immer mit sich spazieren führte, schaute von ihrer Lektüre auf, schüttelte den Kopf und rügte mißbillgend Jack:
„Auf meine Ratten laß ich nichts kommen, du gemeiner Tierquäler!“
Auch Rudi versuchte den sich wieder einmal allzu radikal gebärdenden Kampfgefährten zu beschwichtigen.
„Nicht doch, nicht doch, nur nich gleich so aggressiv.
Damit können wir gewiß nicht punkten.
Spar dir dein Pulver lieber für eine bessere Gelegenheit auf.
Viel wichtiger scheint es mir im Moment, daß ihr euer Objekt erst mal richtig absichert, denn ihr müßt in der allernächsten Zeit mit einem Angriff von der Geyer-Bande rechnen.
Wie ich heute morgen mitgekriegt habe, führen die 'ne ganz böse Sache gegen uns im Schilde.
Ich werd' in den nächsten Tagen wieder mal Wassili aus der Ukraine kontaktieren müssen, der soll uns ein paar Panzerfäuste zum Sonderpreis von seinen Mafia-Kollegen versorgen.“
„Mensch, das is ja geil“, unterbrach ihn da Assi-Lotte von jäher Vorfreude erfaßt, hell aufjauchzend.
Sie war die Freundin von Bomben-Jack und kaum weniger radikal als dieser veranlagt und verfügte zudem über den zweithöchsten Hahnenkamm in der Stadt.
„Sollten lieber wieder mal 'n Kilo Dope an Land ziehen“, wagte nun Pillen-Michel einzuwerfen, der phlegmatischste Kumpan des illustren Grüppchens.
„Eure ganze blöde Kriegsspielerei geht mir schon die ganze Zeit gehörig auf die Nerven.
Ich werd' wohl doch lieber zu Beginn des Winters nach Goa auswandern, wenn es mir gelingt, bis dahin das Geld für Visum und Flug zusammenzudealen.“
Das wollte er schon seit acht Jahren, doch jedesmal kam irgendetwas Unerwartetes dazwischen.
Er nahm eine starke Prise von einem weißen Pülverchen, das er sich in letzter Zeit immer öfter genehmigte, weil es viel billiger produzierbar war als das gewöhnliche Gras und überides auch viel schneller und heftiger wirkte.
Das Geheimrezept verriet er niemandem, er hätte es wohl sogar mit ins Grab genommen, hätte man ihn zwingen wollen, die verwendeten Ingredienzien zu verraten.
Erst heute morgen war er von einem dreitägigen Waldspaziergang zurückgekehrt.
Mit seiner verworrenen roten Mähne und seinem verfilzten Vollbart machte er ganz den Eindruck, als ob ein Hirsch über seine Schlafstätte im Gebirg' gestolpert wäre.
Irgendwie schien ihm auch das bösartige Wildbret einen heftigen Stoß mit dem Geweih versetzt zu haben, denn seine abgetragene Jacke war gänzlich verschlissen und ein blauer Fleck zierte seine linke Schläfe.
„Jetzt kommt aber wieder mal zur Vernunft“, mahnte nun Rudi bereits eine kleine Nuance strenger seine Kampfgenossen, sich zugleich eine zweite Flasche Sternburger aus deren Kasten angelnd und diese schallend an der Parkbankkante öffnend.
„Wassilis Geheimwaffe ist natürlich vorerst nur zur Verteidigung eurer Pennerhütte gedacht, in der ich übrigens in nächster Zeit auch zu nächtigen gedenke, seitdem man mir mein letztes Domizil heute früh den Hang hinuntergerollt hat.
Geht lieber mit offenen Augen durch die Stadt und paßt auf, daß ihr nicht den Geyerischen in die Hände fallt, die kennen nämlich mit euch Bagage kein Pardon.
Ein Angriff wäre zur Zeit das falscheste, was wir unternehmen könnten.
Denn darauf warten die doch bloß und ihre Hintermänner im Landrattenamt.
Glaubt mir, eines Tages werden die sich selber noch einmal in die Luft jagen, und das ganz sicher ohne unsere Schützenhilfe.
Ach ja, ehe ich es noch vergesse, Edikus.
Ich brauch' mal wieder einen neuen frost- und wassersicheren Schlafsack, denn mein alter ging mir heute Morgen futsch.
Aber bittscheeen Quaaaliiitääät – getrau dir ja nicht, mir wieder solchen Müll, wie letztens den Camping-Tauchsieder, anzuschleifen, der gleich bei der ersten Zündung die Grätsche gemacht hat.“
Edikus nickte betroffen.
Er war der Verantwortliche der Bande für irreguläre Einkäufe – und da er sich neben Obi- besonders auf Edeka-Läden spezialisiert hatte – Liedl- und Aldi-Fraß war ihm nach eigener Aussage einfach zu billig – wurde er von seinen Freunden liebevoll „Opa Edikus“ oder ganz kurz „Eddi“ genannt.
Stibitzte er auch regelmäßig in den Supermärkten der Stadt – ganz privat unter Freunden war er die ehrlichste Haut, die man sich nur vorstellen konnte, ein hilfsbereiter Bursche, technisch begabt und der einzige in der Gruppe neben Lese-Ratti, der viel las und sich in literarischen Dingen ungemein gut auskannte.
Als der Kasten Sternburger nach einer knappen Stunde zur Neige gegangen war, machten sich die einen zurück ins besetzte Haus, die anderen trödelten noch ein Weilchen in der Stadt herum, um noch etwas bei den sich immer geiziger gebärdenden Bürgern zu schnurren oder sich auf clevere Art etwas Eß- oder Trinkbares zu organisieren. Rudi ging in seine Stammkneipe, oder besser formuliert, in das seit einem Jahr illegal betriebene Bistro, das er sich trotz der hereingebrochenen Krisenzeiten immer noch fast alle Abende leistete.