Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
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Am nächsten Morgen gab Oberinspektor Böck nach einer halben Stunde Wartezeit den im Rathaushof ungeduldig wartenden Versammelten mit etwas unsicher klingender Stimme kund, Egon der Vorarbeiter habe wegen einer dringenden familiären Angelegenheit ganz plötzlich und auf unbestimmte Zeit verreisen müssen.
Mit eindringlichen Worten warnte er sodann ganz speziell seine Problem-Schäfchen aus dem „Strafbataillon“ davor, die Abwesenheit ihres Vorarbeiters auszunutzen, um irgendwelchen dummen Unfug zu treiben.
Er wolle sie in der Zwischenzeit der Obhut von Karl Kinast anvertrauen, der sie bis zu Egons hoffentlich recht baldiger Rückkehr betreuen werde.
Dieser könne zwar als Multicar-Fahrer nicht immer vor Ort sein – er betreute nämlich auch noch die Kaffeemaschine des offiziellen städtischen Bautrupps – aber er genieße sein absolutes Vertrauen, das Flußmauerprojekt mit Vollgas bis zur krönenden Vollendung erfolgreich voranzutreiben.
„Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß es euch mit Unterstützung von Herrn Kinast gelingen wird, die Flußmauer pünktlich bis zum Ersten Advent hochzuziehen.
Sie soll nämlich in der örtlichen Presse als kleines Weihnachtsgeschenk unseres Oberbürgermeisters an seine lieben Bürger vorgestellt werden, damit ein so schlimmes Hochwasser wie vor zwei Jahren in unserer Stadt für alle Zukunft unmöglich gemacht wird.
Jetzt aber marsch marsch, an die Arbeit.
Und gefrühstückt wird heute nur zehn Minuten, damit ihr die gerade eben verbummelte Zeit wieder herausholen könnt.“
Damit drehte er seine Hacken um neunzig Grad, um durch die Hintertür in das Rathaus zu verschwinden.
Er war in Eile, denn der Oberbürgermeister wartete bereits voller Ungeduld auf ihn, um endlich zu erfahren, was eigentlich mit Egon dem Vorarbeiter vorgefallen sei.
Viel Neues konnte Böck seinem Kollegen Chef jedoch immer noch nicht berichten.
Die Anrufe am Vorabend und am zeitigen Morgen bei Egon waren erfolglos gewesen.
Nun sollte Karl Kinast sogleich nach der Einweisung des Flußmauertrupps bei Egon vorbeifahren, um zu schauen, ob dem alleine am Rande der Stadt in einem kleinen Häuschen lebenden Junggesellen womöglich irgendetwas Schlimmes zugestoßen sei.
Die kleine Notlüge vorhin den Hartz‑IVlern gegenüber hatte sich Böck persönlich ausgedacht, um ja keine bösen Gerüchte aufkommen zu lassen.
Egons allen bekanntes zartes Gemüt ließ ihm das schlimmste befürchten, doch behielt er seine dunklen Ahnungen lieber vorerst einmal für sich.
Selbst seinem Chef gegenüber schwieg er sich aus, da diesen ein so ungelegen kommender Skandal womöglich in Rage versetzt hätte.
Bis gegen Mittag herrschte im Führerhauptquartier des Rathauses dumpfe Unruhe, denn Kinast hatte nach seinem Besuch bei Egon lediglich mitteilen können, daß der Vermißte anscheinend nicht zu Hause sei. Die Haustüre wäre ordnungsgemäß verschlossen gewesen, nur die noch im Briefkasten befindliche Zeitung habe ihm zu denken gegeben. Böck beschloß also schweren Herzens, die örtliche Polizei einzuschalten, die sich mit tatkräftiger Unterstützung des Schlossers Hans Stramm Zugang zu der verschlossenen Wohnung verschaffte. Aber auch auf diese Weise wurden keine Indizien gefunden, die das plötzliche Verschwinden des Vorarbeiters erklären konnten. Es wurde also eine Vermißtenanzeige an die übergeordnete Polizeibehörde weitergeleitet und dann der weiteren Entwicklung der Dinge so geduldig wie möglich geharrt. Böck und Kuhn blieb jetzt nichts anderes übrig, als einen Notplan auszuarbeiten, der jedoch das fatale Manko aufwies, daß momentan kein geeigneter Nachfolger für Egons undankbaren Job gefunden werden konnte. Sicherlich existierten ein paar fähige Kandidaten in der Stadt, doch gebrach es diesen an dem benötigten Untertanengeist. Einsatzbereite Speichellecker gab es zwar in Hülle und Fülle, doch war es mit deren geistigen Kapazitäten so schlimm bestellt, daß man auf ihre Unterstützung wohlweislich zu verzichten wußte.
Den größten Vorteil aus dieser verzwickten Situation zog Rudi von Wurstig, der bereits in der letzten Nacht in einer anstrengenden Sitzung mit seinen Kampfgenossen im besetzten Haus getagt (oder sollte man besser formulieren: nächtens gezecht) hatte. Bis in die frühen Morgenstunden war lautstark diskutiert und gebechert worden, wie das nun einmal in echten Anarchistenkreisen von jeher gute Sitte und Brauch ist. Gegen sechs Uhr in der Früh' wurde dann schließlich ein strategischer Kampfplan ausgearbeitet, der die Vertreibung des Ausbeutergesindels aus dem Rathaus bis zum Ersten Advent vorsah. Als erster wichtiger taktischer Schritt wurde die revolutionäre Unterwanderung der Zwangsrekrutierten der Langzeitarbeitslosenkorrekturmaßnahme beschlossen, um sie binnen einer Wochenfrist zu einem „Stoßtrupp der anarchistischen Weltrevolution“ umzuformieren.
Rudi von Wurstig versprach seinen Kampfgenossen, sofort hurtig ans Werk zu schreiten und brach deshalb schon ungewöhnlich zeitig zum Rathaus auf, wo er bereits eine halbe Stunde vor Arbeitsbeginn herumhing und die nach und nach eintrollenden Kollegen in provokative Gespräche zu verwickeln suchte.
Seine aufrührerischen Reden fielen auf fruchtbaren Boden, denn die Wut auf die Stadtobrigkeit hatte in Prekarierkreisen in den letzten Monaten sichtlich zugenommen und seit der Realisierung der Zwangsbeschäftigungspläne durch das Triumvirat einen Sättigungsgrad erreicht, der eine Detonation leicht möglich machte.
Für die benötigte Initialzündung wollte Rudi schon sorgen.
„Zehn Minuten Frühstückspause, der Alte spinnt wohl!“, murrte er daher für seine Arbeitskollegen klar vernehmlich, nachdem Böck seine ermahnende Morgenansprache beendet hatte.
„Das erste, was wir machen werden, ist erst einmal ein Bummelstreik.
Laßt das Werkzeug in den Karren und folgt mir unter die Brücke.
Es getraue sich heute Vormittag keiner, eine Schaufel oder Hacke in die Hand zu nehmen, sonst setzt's was.“
„Aber Rudi“, wagte nun doch die ständig verängstigte Müller-Marianne einzuwenden, „das könnte uns aber allen eine Sperre vom Jobcenter einbringen.“
„So'n Quatsch“, ereiferte sich da Rudi höhnend, „wir verlangen doch nur eine anständige Behandlung, die uns durch das geltende Arbeitsrecht doch ohnedies zugesichert ist und für die unsere Großväter auf den Barrikaden ihr Leben gelassen haben.
Macht euch nur nicht in die Hosen! Für eventuelle Konsequenzen stehe ich natürlich persönlich gerade.
Und jetzt bitte ich erst einmal um Ruhe, denn unsere anberaumte Brigade-Krisensitzung wurde von mir erst für 13 Uhr anberaumt.“
Nach dieser anstrengenden Ansprache holte er seinen nagelneuen Schlafsack aus einer großen Edekatüte, kletterte geschwind hinein, drehte seinen Kopf dem nächstliegenden Strebepfeiler zu, um schon nach einigen Sekunden seinen Kollegen durch ein lautes Schnarchen kundzutun, daß ihn süßer Schlummer übermannt habe.
Nach der nächtlichen Tagung im ‚Haus‘ hatte er nämlich einen gewissen Nachholebedarf an Schlaf bitter nötig.
Keiner seiner Kollegen wagte es, den Schläfer zu stören. Franz, der sich wieder rauchend auf seiner Frotteedecke niedergelassen hatte, holte plötzlich eine Flasche Bier aus der Tasche, die er mit seinem Feuerzeug öffnete und dann genüßlich austrank. Wie es sich gehört, hatte er natürlich auch für jeden seiner Kumpane eine Flasche mitgebracht. Diese setzten sich nun im Kreise um ihn herum, um Skat zu spielen, während die Frauen daran gingen, Glühwein über einem improvisierten Kamin zu bereiten, der dann ebenfalls in die Runde ging und die fröhlich-aufmüpfige Stimmung weiter anheizte. Aus Rücksicht auf den schnarchenden Rudi wurde nur leise geflüstert, und mußte einer einmal lachen, dann schnitt er in seiner Not eine Grimasse, als müßte er jeden Moment platzen. Natürlich war das plötzliche Verschwinden Egons ein wichtiger Gesprächsstoff der Tuscheleien. Niemand wußte etwas Bestimmtes, doch brodelte die Gerüchteküche mächtig. Irgendetwas Schlimmes war passiert, darüber waren sich alle einig, und Schuld daran konnten nur die andauernenden Schikanen Böcks und seiner beiden Hintermänner gewesen sein.
Es war bereits viertel eins, als man ein verdächtiges Tuckern hörte, das sich von der Uferstraße her ihrem Brückenversteck näherte.
Man hörte wie jemand eine Fahrzeugtür zuknallte, sodann sich in großer Eile nähernde Schritte.
Einer schaute den anderen betroffen an, als wäre man ein Grüppchen von Verschwörern, deren Aufstandsplan soeben verraten worden war.
Jedoch getraute es sich keiner, im letzten Moment noch aufzustehen, um Betriebsamkeit vorzutäuschen.
Enrico legte mahnend den Finger auf den Mund, während Köhler-Harry, Enricos alter Freund aus „Hänels Bistro“, mit den Augen kullerte und schelmisch grinsend seine Skatkarten gerade noch rechtzeitig in der Jackentasche verschwinden ließ, ehe das geschwind sich nahende Donnerwetter seinen unheilvollen Lauf nehmen konnte.
„Was ist denn hier los! Ich glaub', ich spinne“, hörte man jetzt Multi-Karl am Eingang des Brückenverstecks erbost schreien.
„Soviel ich weiß, habt ihr doch erst 13 Uhr Mittagspause, ihr faules Gesindel! Das gibt natürlich eine Strafmeldung, die sich gewaschen hat.“
Er blinzelte in das Zwielicht unter der Brücke und nahm nun auch die Schubkarren mit den blitzblanken Schaufeln und Hacken wahr, die dort seit dem Morgen auf ihren Einsatz warteten.
„Das ist ja wohl die Höhe, ihr verflixten Arbeitsverweigerer, doch was …?“.
Er hatte sich sich nach links in Richtung Mauer gewendet, von woher ihm jetzt ganz deutlich vernehmbar ein leiser Schnarchton entgegenhallte.
Um sich vor dem als viel zu grell empfundenen Tageslicht wirkungsvoll zu schützen, das auch das Brückenversteck spärlich erleuchtete, hatte sich Rudi vollständig in seinen Schlafsack verkrochen und mit dem Reißverschluß den Kontakt zur Außenwelt hermetisch abgeriegelt.
Das Gebrülle Kinasts vermochte es daher nicht, den Schläfer aus seinen revolutionären Träumen zu erwecken.
In größter Rage näherte sich deshalb Multi-Karl dem verdächtigen Schlafutensil, das sich im Rhythmus des Schnarchtaktes auf und nieder bewegte und gab dem friedlich Schlummernden eine saftigen Tritt in das Hinterteil.
Der ließ nun ein kräftiges Gähnen vernehmen und öffnete einige Zentimeter weit seinen Reißverschluß, ganz vorsichtig, um die Lage draußen zu erkunden.
„Jetzt aber hoch mit dir, du Faultier!“, zeterte Karl.
Er beugte sich nieder und versuchte mit alle Kraft, Rudi wachzurütteln.
Doch der drehte nur ganz langsam seinen Oberkörper dem penetranten Störenfried zu, öffnete behutsam ein klein wenig seinen Sack, streckte dann plötzlich seinen Kopf aus der schmalen Öffnung und biß Karl mit einem grimmigen Knurren in die rechte Wade.
Ein gellender Schmerzensschrei – und Karl hüpfte auf seinem linken Bein nach draußen zurück.
In einem fort schimpfend untersuchte er am Flußufer seine verletzte blutende Wade.
„So ein Berserker“, hörte man ihn jammern.
„Für diese Unverschämtheit wird der Halunke büßen.
Noch heute gehe ich zum Richter-Gunt, um Anzeige wegen schwerer Körperverletzung zu erstatten.“
Richter-Gunt war der Chef der städtischen Polizeibehörde, die mittlerweile auf fünf Mann reduziert worden war. Gewöhnlich spazierte der bereits seit unzähligen Jahren im Polizeidienst tätige Richter mit einer Pistolentasche voller Käseschnitten durch die Stadt, um sich überall dort wichtig zu machen, wo es eigentlich nichts zu erledigen gab, aber immer dann schnurstracks Reißaus nehmend, wenn eine Situation zu eskalieren drohte. Er war nämlich im Dienst ungemein vorsichtig geworden, seitdem man ihn vor einem Vierteljahrhundert einmal zum Dorftanz in Z. die Tanzsaaltreppen hinuntergeworfen und mit einem Abschleppseil an einen Strommast gefesselt hatte.
Unter der Brücke hielten sich alle vor Lachen den Bauch, während Rudi sich mühevoll stöhnend aus den Federn erhob.
„Da hätte ich ja fast die Mittagspause verschlafen“, meinte er kopfschüttelnd.
Er reckte und streckte seine müden Glieder und gähnte dann noch einmal herzhaft.
„Aber was ist denn da draußen los.
Das klingt ja bald wie der Hund vom Zischer-Martin, wenn den eine Ratte gebissen hat.“
Noch ein wenig schlaftrunken, wackelte er hinaus auf den Vorplatz, wo Multi-Karl gerade in Begriff war, die blutende Bißwunde mit einem verdreckten Taschentuch zu verbinden.
„Bist wohl ausgerutscht?“, fragte ihn Rudi scheinheilig.
„Laß mal sehen, wird ja hoffentlich nicht so schlimm sein.“
„Komm mir mit deinen Dreckpfoten ja nicht zu nahe!“, keifte ihn Kinast feindselig an.
„Das wird noch ein schlimmes Nachspiel für dich haben.
Tätlicher Angriff auf einen Vorgesetzten, Schlafen während der Arbeitszeit, Arbeitsbummelei, Aufwiegelung der Kollegen …“
„Nu halt' aber mal deine Klappe, Gewerkschafts-Assel“, erwiderte Rudi, nun ebenfalls erregt werdend.
„Du hast hier bei uns gar nichts zu melden.
Und was die behauptete Arbeitsverweigerung betrifft, dann müßtest du ja eigentlich als Gewerkschafter wissen, daß das Arbeiten unter solchen katastrophalen Zuständen wie hier rechtlich eigentlich gar nicht zulässig ist.
Aber was diskutiere ich eigentlich mit einem solchen Idioten herum, wie du einer bist.
Zieh gefälligst Leine und verkrümmel dich zu deinem Arschgevatter Böck, sonst …“.
Rudi drehte sich flugs um und lief zu einer am Brückenrand abgeparkten Schubkarre, um sich einen schweren Vorschlaghammer zu packen.
Das schwere Arbeitsgerät bedächtig abwägend, wendete er sich wieder Multi-Karl zu, schwang seine furchtbare Waffe ein paar Mal mit beiden Händen in der Luft und näherte sich dann mit drohender Gebärde dem Rathaus-Schergen.
Dieser macht ein erschrecktes Gesicht und stürmte im Eiltempo die Böschung zur Uferstraße hinauf, wo er in die Fahrerkabine seines Multicars sprang und mit Vollgas in Richtung Rathaus entfleuchte.
Lauthals lachend legte Rudi den Hammer in den Schubkarren zurück.
„Dieses war der erste Streich, doch der zweite folgt sogleich“, zitierte er gutgelaunt Wilhelm Busch.
„Jetzt aber, liebe Kollegen, ist die Zeit reif für unsere Krisensitzung.“