Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
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Bei dem von Rudi angepeilten Bistro handelte es sich eigentlich nur um eine ausgebaute größere Garage, gleich jenseits der Stadtgrenze im nahen Dorf Z. gelegen, mit improvisierter Pißrinne am Gartenzaun nebenan, in der sich allabendlich die größten Trinker, Spieler und Taugenichtse der Umgebung zusammenfanden, um bis in die frühen Morgenstunden bei Bier und Schnaps gemütlich – von den gelegentlichen Schlägereien einmal abgesehen – zusammenzusitzen und zu palavern. Ein paar Spielsüchtige spielten gewöhnlich Siebzehn und Vier oder pokerten um das schon längst nicht mehr vorhandene „Häuschen“ von Oma. Der Würfelbecher schepperte, wenn beim Schwindelmäx ein „Neuer“ bis auf den letzten Cent ausgenommen wurde. Die Flasche Bier kostete für gewöhnliche Besucher einen Euro, einzahlbar in die Kasse des Vertrauens neben dem Stapel Bierkästen hinter dem Stammtisch. Rudi gehörte zu den ganz speziellen Stammkunden und bezahlte im Höchstfall die Hälfte des geforderten Obulus. Er war nämlich ein guter Freund des illegalen Bistrobetreibers, dem arbeitslosen ehemaligen Gastwirt Hugo Hänel, mit dem er einst gemeinsam zu DDR-Zeiten eingesessen hatte. Bis in die achtziger Jahre hatte Hänel noch den Gasthof zur „Wilden Sau“ im benachbarten Kuhstädtel bewirtschaftet. Ein paar falsche Rechnungen, der mitunter an Berliner Bergtouristen verfütterte Katzengulasch, der auf der Speisekarte korrekt als „falscher Hase“ deklariert wurde, sowie die unglückseligen Alkoholvergiftungen mehrerer penetranter Kunden, die zur Sommerszeit im nahen Wäldchen mit leerer Geldbörse des Morgens erwacht waren, hatten dem gerissenen Wirt schließlich Schankwirtschaft, Ehefrau und zwei Jahre Freiheit gekostet. Als glücklichen Nebeneffekt konnte Hänel jedoch die dadurch zustande gekommene Freundschaft mit Rudi von Wurstig verzeichnen, der ihn im Knast mit seiner genialen Lebensphilosophie vertraut gemacht hatte und von der er fortan nicht mehr lassen konnte. Im Herbst 1989 hatte er dann ein halbes Jahr früher als eigentlich vom Gericht vorgesehen – nach eigener Aussage als politischer Gefangener – die wohlverdiente Freiheit wiedererhalten. Eine Entschädigung war ihm aber seither vom neuen politischen Regime hartnäckig verweigert worden. Kein Wunder, daß er sich in den letzten Jahren zu einem extremen Anarchisten und Kapitalistenhasser entwickelt hatte, der inbrünstig auf den Tag X wartete, um „mit denen da oben“ gründlich abzurechnen. Von einem leicht angeknacksten alten Wismutkumpel hatte er einen Batzen stark angereicherter Pechblende geschenkt bekommen, die er in einem Eimer in der hintersten Ecke seines Bistros aufbewahrte und aus der er irgendwann einmal, wenn er genügend Muse und Mut hätte, eine „dreckige Mini-Atombombe“ basteln wollte, die er im hiesigen Landratsamt zu zünden gedachte. Nur unserem Freund Rudi war es zu verdanken, daß er mit seinen nuklearwissenschaftlichen Plänen einfach nicht vorankam – denn der Spitzbube hatte in einem unbemerkten Augenblick die Pechblende gegen ein ungefährliches, täuschend ähnlich eingefärbtes taubes Gestein ausgetauscht, den radioaktiven Müll aber auf dem NPD-Müllplatz „ordnungsgemäß“ entsorgt und auf diese Weise die Strahlenbelastung in „Hänels Bistro“ auf ein Millionstel des ursprünglichen Becquerel-Wertes gesenkt. Aufgefallen war das keinem der braven Kunden, abgesehen von den drei phlegmatischen Bierglastrinkern, die sich darüber wunderten, weshalb ihr Hopfensaft auf einmal eine kleine Halbwertzeit länger von einer Blume geziert wurde.
Als Rudi an diesem Abend in das spärlich beleuchtete Garagen-Bistro eintrat, bemerkte er sofort den „Neuen“ am Stammtisch, der gerade beim Schwindelmäx von ein paar ganz üblen Ganoven übers Ohr gehauen wurde.
Es war Enrico, der sich nach seinem Rausschmiß beim VVV-CallCenter auf Kneipentour begeben hatte, um seinen Gram gehörig im Suff zu ertränken.
Irgenwie war er dann gegen Abend schon ziemlich angetrunken in Hugos noblem Etablissement gelandet.
Rudi von Wurstig kannte Enrico flüchtig und erinnerte sich, daß er von ihm schon einige Male ein kleines Trinkgeld bekommen hatte.
Da er im tiefsten Herzen ein grundanständiger Kerl war, setzte er sich neben ihm, beteiligte sich an der nächsten Würfelrunde und vollbrachte es als hervorragender Deckelschnipser, Enrico vor weiteren Geldverlusten zu bewahren.
Das provozierte böses Murren am Tisch, doch wagte keiner, Rudi öffentlich anzugreifen.
Nachdem Köhler-Harry die zwei folgenden Runden hatte bezahlen müssen – natürlich wurde um doppelte Schnäpse gespielt – löste sich die Spielrunde mißgelaunt auf, so daß schließlich nur noch Rudi, Enrico und Hugo am Stammtisch sitzen blieben.
„Na, deine Stimmung scheint ja heute nich gerade in Höchststimmung zu sein“, ließ sich Rudi nach einer Weile besinnlichen Schlürfens vernehmen.
Er legte dabei Enrico die Hand sanft auf die Schulter, der sich dadurch veranlaßt sah, seinen Mund zu einem verkrampften Lächeln zu verziehen.
„Nöh, wurde heute Vormittag rausgeschmissen und muß morgen früh wieder mal aufs Jobcenter.
Werd' wohl 'ne Sperre von den Halunken beziehen.“
Er seufzte tief auf und nahm dann einen weiteren gierigen Schluck aus seiner Bierflasche.
„So schlimm wird’s schon nich werden, die hab'n doch letztens erst wieder in Berlin die Zahlungen an die Ämter erhöht, wegen der Krisenzeiten, weißte.
Da fällt für dich sicher auch 'n Groschen ab, möcht' ich meinen.“
„Un die großen Heuschrecken in Frankfurt, die stecken sich die Milljarden von uns kleinen Steuerzahlern in den gierigen Rachen, um sich noch mehr Villen und Luxusjachten zuzulegen.
Wenn nur schon meine Bombe fertig wäre! Denen würde ich schon gehörig Feuer unter dem Arsch machen!“, begann nun Hugo erregt zu schimpfen.
Seine rote Trinkernase hatte bereits eine violette Färbung angenommen, da es heute, wie stets zu Monatsanfang, eine besonders große Menge an Alkoholika zu vertilgen galt.
„Du und Steuerzahlen!“, neckte ihn Rudi sogleich, „sag' bloß, du hast inzwischen deinen Schuppen beim Ordnungsamt angemeldet?“
Ohne eine Antwort seines alten Freundes abzuwarten wendete er sich wieder an Enrico, zwinkerte ihm schelmisch zu und meinte dann:
„So is nu mal unser Hugo, andauernd glaubt er, die dort oben würden ihn bescheißen, dabei ist er doch selbst der größte Beschißkittel weit und breit.“
„Nu halt aber mal dein Schandmaul, du arbeitsscheues Element, laß doch lieber mal den jungen Herrn da von seinen schlimmen Erfahrungen mit den kapitalistischen Blutsaugern erzählen.“
Hugo griff unter den Tisch und brachte eine Flasche selbst gebrannten Obstler zum Vorschein, den er nur seinen besten Kumpels ausnahmsweise zum Trunke anbot.
Er langte nach drei trüben Schnapsgläsern, die auf der Werkbank hinter ihm standen, wischte sie mit seinem schon leicht verschneuzten Schnupftuch sauber und füllte sie mit dem edlen Tropfen.
„Das da kipp' hinter, damit deine Stimme ordentlich geölt wird.
Nu fang aber schon mal an, Junge, wir sind wirklich gespannt.“
Enrico stürzte den Obstler mit einem einzigen Schluck in seine durstige Kehle hinunter und begann dann seine traurige Geschichte zu erzählen.
Zum ersten Mal hörten ihm jetzt zwei Menschen andächtig zu – und ganz plötzlich öffnete sich sein Herz, um all die erlittenen Demütigungen wie eine Sturzflut aus seinem Munde hervorsprudeln zu lassen.
Daß er sich dabei mitunter verhaspelte, daß sich seine Stimme immer wieder überschlug, machte niemandem etwas aus, nur Rudi klopfte ihm ab und zu kumpelhaft auf den Rücken und Hugo schenkte ihm regelmäßig einen kleinen Schluck von seinem Zaubertrank nach, dazu voller Groll murmelnd:
„Diese Verbrecher, die werden alle in Kürze für ihre Schandtaten büßen müssen, das versprech' ich euch! Wenn sich nur mein alter Bergmann-Kumpel wieder einmal blicken lassen würde, bei dem ich zwei Eimer Arsenikerz bestellt habe.“
„Nur kein Massaker, Hugo“, beschwichtigte ihn Rudi, „hör lieber zu, wie die Tragödie unseres Freundes hier weiter geht.“
Nach einer kurzen Stärkung berichtete nun Enrico über die Ereignisse der letzten beiden Wochen im CallCenter und brach dann, endlich am Ende seiner traurigen Erzählung angelangt, in Weinen aus. Den beiden sich gewöhnlich rau gebärdenden Trunkenbolden standen ebenfalls die Tränen in den Augen. Sie versuchten alles mögliche, ihren Kumpan zu trösten, hatten aber damit nur mäßigen Erfolg.
Da wurde die Tür ganz plötzlich aufgerissen und ein bärtiger Mann mit einer Thälmann-Mütze auf dem kahlen Schädel wankte herein, gefolgt von einem Hund, der nicht von der Seite seines Herrchens wich.
„Gelobt sei Jesus Christus, unser Heiland ist erschienen!“
Hugo Hänel war von seinem Sitz emporgesprungen und umarmte den soeben Eingetretenen.
Der schob ihn aber grob zur Seite und brüllte mit heißerer Stimme und wild fletschenden Zahnstümpfen:
„Eine Flasche Rotwein, natürlich vom besten, aber dalli, dalli, und mit einem sauberen Glas gefälligst, wenn ich bitten darf.
Was ist das hier bloß wieder für eine Sauwirtschaft!“
Hugo beeilte sich, den anspruchsvollen Wünschen seines neuen Kunden nachzukommen.
Bei dem gerade eingetretenen Grobian handelte es sich nicht um Rübezahl oder gar um einen boshaften Berggeist, nein, es war Bergmann a.D. Martin Zischer, den Hugo gerade eben so dringend herbeigesehnt hatte, um mit seiner Hilfe in Bälde einen neuen Reichstagsbrand zu legen, diesmal aber mit einer halben Tonne Dynamit, aufbewahrt aus Wismutzeiten, damit ein Wiederaufbau für alle Zeiten unmöglich gemacht werden würde.
Jetzt, nachdem es sich Zischer am Stammtisch einigermaßen bequem gemacht hatte, ging die Party erst richtig los. Alle revolutionären Visionen waren bald vergessen, denn der gute alte Bergbauveteran hatte seine Rente überwiesen bekommen und gab nun tüchtig aus. Gegen drei Uhr in der Frühe sank Rudi als letzter Überlebender des Quartetts auf die Tischplatte und stimmte wenige Sekunden später in den Schnarcherchor seiner schon etwas früher dahingeschiedenen Saufbrüder ein. Bergmann Martin schlummerte friedlich in der Ecke, den Kopf auf seinen treuen Hund gebettet. Hugo hatte vergeblich versucht, sich mit einem Bierkasten zuzudecken und lag nun neben dem Feuerlöscher während es sich Enrico, für eine kurze Zeit erlöst von seinem bohrenden Kummer, so bequem wie möglich unter dem Stammtisch zur Ruhe gebettet hatte. Es war ihm gerade gelungen, ein paar gute und verläßliche neue Freunde zu finden.