Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
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Rudi von Wurstig war eines jener feucht-fröhlichen Originale, die in keiner vernünftigen Kleinstadt fehlen dürfen und die ihr Leben unnütz und frohgelaunt verrinnen lassen, ohne ihr Lebtag lang ihren Nächsten wirklich etwas Schlimmes zugefügt zu haben, sieht man einmal von den gelegentlich begangenen kleineren Sünden – die der liebe Gott ja bekanntlich im Handumdrehen vergibt – wie geplünderten Briefkästen, verschmutzten Parkanlagen und dem allnächtlich zelebrierten Krach, einmal ab. Normalerweise kann ihnen kein vernünftiger Mensch über die Maßen und schon recht nicht auf die Dauer gram sein, leben sie doch voller Bescheidenheit von den Brosamen, die die göttliche Gerechtigkeit auch dem kleinsten Vögelein unter dem Himmelszelt zugesteht, verfügen sie doch trotz des Schmutzes, in dem sie hausen, über eine Reinheit, die sonst nur Kleinkindern und Jungfrauen eigen ist, sind sie doch tagein tagaus froh gelaunt und in ihrer gelebten Armut allemal großzügiger, als so mancher ehrenwerte, sich wer weiß wie verdienstvoll dünkende Wohlstandsbürger. Daß sie sich dafür entschieden haben, ihr Leben ohne das Trübsal der Arbeit zu fristen, sollte ihnen auch keiner verübeln, verursacht doch bekanntlicherweise Nichtstun im allgemeinen viel weniger gesellschaftlichen Schaden als das emsigste Tätigsein. Alle obrigkeitlichen Fürsorgemaßnahmen – seien sie nun freiwilliger oder auch zwangsweiser Natur – sind bei ihnen von vornherein zum Scheitern verurteilt, verfügen sie doch über eine Lebensphilosophie, die den moralischen Maximen ihrer Verfolger bei weitem überlegen ist. Es verwundert also nicht, daß man ihnen letztendlich unter bestimmten Auflagen Narrenfreiheit gewähren muß zumindest an all jenen Orten, die noch von einer halbwegs vernünftigen Obrigkeit regiert werden. Man akzeptiert, oder besser ausgedrückt: man ist letztendlich dazu gezwungen, anzuerkennen, daß ihrer Lebensweise eine gleichberechtigte Stellung innerhalb des betreffenden Gemeinwesens zusteht. Sie gehören nun mal einfach dazu, so wie früher zu jedem anständigen Dorf eben ein Schulze und ein Pfarrer, ein Schulmeister und ein Dorftroddel, ein Gendarm und ein Trunkenbold, ein Abdecker und ein Totengräber gehörte, ein jeder mit bestimmten Vorzügen und Qualitäten aber auch mit persönlichen Fehlern und Schwächen ausgestattet.
Rudi von Wurstig war ein ganz besonderes Exemplar dieser liebenswert-seligen Gossen-Philosophen.
Auch er konnte sich damit brüsten, schon seit über dreißig Jahren ein Leben ohne Arbeit genossen zu haben.
Zu DDR-Zeiten hatte man zunächst versucht, den angeblich aus einem verarmten und heruntergekommenen Raubrittergeschlecht stammenden Außenseiter zu disziplinieren und in ein nützlichen Mitglied der sozialistischen Gesellschaft umzuwandeln.
Doch alle unternommenen Versuche schlugen jämmerlich fehl und kosteten dem Staatswesen letztendlich mehr, als man sich jemals von dem Tunichtgut an Nutzen erhoffen konnte.
Man einigte sich also schließlich mit ihm dahingehend, daß er alle Jahre wieder vom Frühjahr bis zum Herbst seine Freiheit als Clochard genießen durfte, ausgestattet mit einem kleinen Taschengeld und natürlich unter der Bedingung, daß er nicht allzusehr über die Stränge schlug.
Eine Arbeitsstelle war für ihn sowieso beim besten Willen nicht mehr von den örtlichen Behörden zu vermitteln.
Schon die bloße Erwähnung des Namens dieses Schrecken verbreitenden adligen Unholdes reichte aus, um die Kaderleiter sämtlicher VEB-Betriebe im Umkreis von zehn Meilen voller Verzweiflung die Hände über dem Kopf zusammenschlagen zu lassen.
Mit diesem Ballast an Bord, so drohten sie, könne unmöglich der laufende Fünfjahrplan erfüllt werden.
Im Oktober nahm man dann gewöhnlich ein mutwillig begangenes Kavaliersdelikt Rudis zum Anlaß, im allgemeinen den Paragraphen über Arbeitsverweigerung und Landstreicherei, um das „assoziale Element“ die kalte Jahreszeit über auf Staatskosten in einer gut beheizten Zelle unterzubringen.
Das kostete allemal weniger, als erst ein frostbedingtes Notdelikt Wurstigs zu provozieren.
Dieser hatte nämlich schon zwei Mal die Fenster der städtischen Polizeiwache zertrümmert hatte, um auf diese robuste Art auf die schleppende Arbeit der Behörden, seine Einweisung in eine Anstalt betreffend, hinzuweisen.
Übrigens waren die Genossen des Wachpersonals der ihn beherbergenden Haftanstalt die einzigen, die sich rundweg positiv über ihren Zögling äußerten, denn im Knast zeigte er sich stets von seiner allerbesten Seite.
Seine länger einsitzenden Mithäftlinge unterstützte er regelmäßig bei den Zellenreinigungen und bei der Erledigung ihrer Korrespondenzen nach draußen, ganz besonders gerne in den viel Raffinesse erfordernden postalischen Liebeshändeln der einsitzenden Schwerenöter; als Ehrenvorsitzender der Häftlingsbibliothek organisierte er an Sonntagnachmittagen literarische Vorlesungen; der Gefangenenchor schließlich war ohne ihn als passablen Gitarristen und Baritonisten keinen müden Heller wert.
Doch am meisten zählte, daß er für die permanent überforderte Gefängnisleitung die Buchhaltung und einen großen Teil des Schriftverkehrs übernahm und deren Wandzeitung mit Losungen und Bildern zum jeweils aktuellen Parteitagsprogramm tapezierte.
Eine Auszeichnung als Kollektiv der sozialistischen Arbeit war damit in jedem Jahr für die Gefängnisleitung gesichert.
Kein Wunder also, daß der Anstaltsdirektor jedes Mal richtig traurig wurde, wenn er unseren liebenswerten Ganoven pünktlich zum Frühjahrsbeginn auf die Walz' gehen lassen mußte.
„Und besuchen Sie uns recht bald mal wieder“, pflegte dann Genosse Hauptwachtmeister Grimbart gutgelaunt zu äußern, „ohne Sie ist das Leben hier im Strafvollzug kaum noch auszuhalten.“
Bis zur Wende gelang es Rudi stets pünktlich, dem Wunsch seines saisonalen Personalchefs nachzukommen, danach jedoch nicht mehr, denn um Kleinstdelikte, wie er sie gewöhnlich beging, kümmerte sich nun kein müder Schwanz mehr.
Mit dem Fall der Mauer endete auch für Rudi von Wurstig das Leben eines anständigen sozialistischen Staatsbürgers, dem nach der Devise: Auch der schlimmste Kunde ist ein nützliches Glied der sozialistischen Gesellschaft, indem er nämlich als negatives Beispiel zur Erhöhung des Pflichtbewußtseins der übrigen Staatsbürger beiträgt! – sein kleines individuelles Plätzchen zugewiesen worden war. Aber auch das neue politische Gesellschaftsmodell, das fortan das Leben der Menschen beherrschen sollte, machte es ihm zunächst nicht allzu schwer. Eine Arbeit und ein trautes Heim hatte er sowieso nicht zu verlieren, und über die Mildtätigkeit der neuen Machthaber brauchte er sich in den ersten Jahren nach der Machtübernahme auch nicht zu beklagen, fielen doch zunächst noch zur Genüge Almosenbrösel von den Tischen, an denen von der „Treuhand“ das geraubte Volksvermögen an das internationale Spekulantentum verschachert wurde.
Es verwundert nicht, daß Rudi der erste offizielle Obdachlose seines kleinen Städtchens wurde, doch das fiel für ihn nicht weiter ins Gewicht, gab es doch mittlerweile eine Menge leerstehender Häuser und Fabriken, in denen er es sich den Winter über richtig gemütlich einzurichten pflegte. Jeden Morgen, montags bis freitags, spazierte der passionierte Frühaufsteher gemütlich zum städtischen Sozialamt, wo er immer prompt sein Tagesgeld und manchmal sogar Gutscheine zum Essens- und Kleidungseinkauf bekam. Sein alter anarchistischer Traum „Nie wieder Arbeit – nie wieder Sozialismus“ schien sich also verwirklicht zu haben, doch nur scheinbar, wie er schon nach ein paar Jahren leicht bestürzt zur Kenntnis nehmen mußte.
Rudis kleine Probleme fingen an – große Probleme existierten nämlich für unseren Straßenhelden überhaupt nicht – nachdem der aus Memmingen stammende Oberschwabe Kunibert Kuhn zum neuen Stadtoberhaupt gewählt worden war und sich recht bald als sturer konservativer Haudegen entpuppte, der von der Mission besessen war, „diesen Ossis“ einmal richtig zu zeigen, wie man den Spieß anfassen müsse, um aus dem selbst verschuldeten Schlammassel herauszukrabbeln. Seine erfolgreiche Bürgermeister-Nominierung hatte der in seiner Heimat nur in der dritten Polit-Liga spielende „junge Wilde“ seinem alten Burschenschaftler-Kollegen Dr. Boettger, und der wiederum seinem inzwischen in den sächsischen Gauen erfolgreich wildernden Kollegen Georg Sulzbach zu verdanken. Genau wie seine beiden Förderer hatte auch Kuhn eine solide antikommunistische Ausbildung im Studienzentrum Weikersheim genossen, die ihm nun dazu verhalf, die rechten administrativen Entscheidungen im rechten Moment zu treffen. Für jedes anfallende Problem hatte er fortan eine rechte Lösung parat, die stets im Endeffekt darauf hinauslief, daß er den von ihm als „unrentabel“ eingestuften städtischen Besitz in Privathand überführte. Mit einer satten Vierfünftelmehrheit hatte er die Stadtratswahlen gewonnen, seinen einzigen Wahlkampfgegner, Ex-MDI-Major Erwin Strittig von der PdS, weit hinter sich liegen lassend. Seine Herrschaft als lokaler Zaunkönig trug beinahe als absolutistisch zu bezeichnende Züge, auch wenn er eingangs seinem Wahlvolk großgönnerisch versprochen hatte, daß er ein Bürgermeister zum Anfassen für alle Mitbürger sein wolle und bei seiner parteiübergreifenden administrativen Arbeit auf alle scheinheiligen -ismen verzichten werde. Ganz vorn in seinem Bürger- und Praxisnähe versprechenden Maßnahmenkatalog stand die Verscherbelung des kommunalen Besitzes an Strohmänner eines amerikanischen Unternehmens, das sich später als skrupellose Teufelssekte entpuppte und die mit ihren erwucherten Geldern angeblich die „jüdische Weltherrschaft“ bekämpfen wollte. Auch Rudis Nacht- und Winterasyl ging bei dieser obrigkeitlich forcierten Privatisierungsaktion in feindliche Hände über und wurde mit einem drei Meter hohen Stacheldrahtzaun umgeben. Dieser hinderte zwar keinesfalls den mit einer Drahtschere bewaffneten Raubritter nächtens einzubrechen. Ein weiterer Vorstoß seines Hausbesetzungstrupps, den er mit einigen neu hinzugekommenen Obdachlosen gegründet hatte, wurde jedoch durch die mit robusten Stahlgittern gesicherten Fenster und die hermetisch verrammelten übrigen Schlupflöcher zum Erliegen gebracht.
Rudi von Wurstig mußte also eines kalten Novemberabends seine Schlafstatt in ein großes umgestülptes Faß des städtischen Müllabladeplatzes verlegen. Aus seiner angestrebten Karriere als Diogenes im Faß wurde jedoch nichts, denn bereits am nächten Morgen wurde er von Mitgliedern der berüchtigten Nazibande, die sich nach ihrem Anführer Ronny Geyer „Geyers Schwarzer Haufen“ nannte, unsanft geweckt, verbleut und aus seinem Notdomizil vertrieben, wobei er einen guten Teil seines spärlichen Hab und Gutes aufgeben und ein blaues Auge in Kauf nehmen mußte.
Auch auf dem Sozialamt hatte er für seine „leichten Probleme“ diesmal kein Verständnis zu erhoffen. Dort war nämlich vor gar nicht allzulanger Zeit auf Betreiben von Oberbürgermeister Kuhn die verantwortliche Streetwalkerin nebst übriger Belegschaft wegen verschwenderischen Umgangs mit öffentlichen Geldern entfernt und in die neu geschaffene städtische Abteilung für Zwangsräumungen strafversetzt worden. Die dadurch freigewordenen Posten nahm nun der junge smarte Falko Schleicher in Personalunion ein, unterstützt durch eine einzige devote, bleichgesichtige Schreibkraft, Fräulein Ulla Schmächtig. Falko Schleicher war der eineiige Zwillingsbruder des berühmt-berüchtigten Ulf Schleicher, der es auf seiner steil verlaufenden Karriereleiter schließlich noch bis zum Unterabteilungsleiter des Bezirksarbeitsamtes bringen sollte. Was die charakterliche Seite betrifft, so glichen sich beide Brüder wie ein Ei dem anderen, nur daß Falko geistig ein wenig unterentwickelter war wie sein Bruderherz, dafür gebärdete er sich aber um so zynischer gegenüber den ihm hilflos ausgelieferten Systemopfern. Durch diese rücksichtslose Flurbereinigung war es dem Bürgermeister gelungen, das wohl assozialste Element, das um die letzte Jahrtausendwende im Landkreis hauste, als Tugendwächter der sozial Schwächsten durchzusetzen. Ein Wunder nur, daß die umfunktionierte alte Villa, in der es residierte, nicht sogleich wegen der erlittenen Vergewaltigung durch einen rächenden Blitz Gottes in ein Häufchen Asche transsubstantialisiert wurde.
Als Rudi von Wurstig an jenem unglückseligen Vormittag etwas später als gewöhnlich im Sozialamt aufkreuzte, war der Wartesaal bereits mit sozialbedürftigen Menschen bis zum Rande vollgestopft. Alle warteten geduldig, der Möglichkeit beraubt, frische Luft schnappen zu gehen, denn Ulf Schleicher hatte sofort bei der Übernahme seines Amtes mit der Unsitte seiner Vorgänger, die Kunden Platzkarten ziehen zu lassen, gebrochen, um zu verhindern, daß „das Gesindel“ andauernd zum Saufen und Rauchen in den nahe gelegenen Park entschwand. Die Klotüren des Amtes waren ebenfalls verbarrikadiert worden, um dem eventuell befürchteten Diebstahl von Toilettenpapier vorzubeugen. Nur in äußerst dringenden Geschäften durfte seine Sekretärin den Schlüssel zum stillen Örtchen, das mit CDU-Wahlkampfplakaten ausstaffiert worden war, an Bedürftige ausleihen, selbstverständlich nach geleisteter Unterschrift, die zur Einhaltung der geltenden Kloordnung verpflichtete.
Langsam verrannen die Vormittagsstunden, ohne dass sich die Zahl der Wartenden nennenswert verringert hätte, denn Besucherandrang und -abfertigung hielten sich in etwa die Waage. Punkt zwölf Uhr kam es wie gewöhnlich zu einer zweieinhalbstündigen Pause. Der gestresste Sozialamtschef verschwand durch eine diskrete Hintertür, um zu seiner wohlverdienten Mittagspause zu fahren, die er standesgemäß im städtischen Ratskeller zu sich nahm. Währenddessen mußten die Almosenheischenden, darunter auch einige Mütter mit Kleinkindern, bis zu seiner Rückkehr im stickigen Wartesaal ausharren. Erst gegen Feierabend, aber immer noch vor einer kleinen Gruppe niedergedrückt wirkender Asylbewerber aus dem Libanon, die der Psychopath Schleicher am allermeisten haßte und deshalb stets am längsten warten ließ, kam Rudi diesmal an die Reihe.
Mit einem schadenfrohen Lächeln wurde Rudi von dem Schreibtischtäter empfangen.
„Heute sind Sie aber wirklich spät dran, mein Lieber, hatten wohl 'ne kleine Auseinandersetzung mit ihren werten Kollegen?“
„Nöh, war nur der scharfe Wind heut' Nacht, Herr Oberscherzmeister,“ erwiderte Rudi nun doch ein wenig angekratzt über die Boshaftigkeit des Beamten.
„Hab' zur Zeit viel Langeweile.
's gibt nämlich momentan mächtig wenig zu tun mit Brikettschaufeln und Holzhacken für die lieben Nachbarn, die solche Sachen heute viel lieber ganz alleene machen.
Könnt' also ganz gut mal wieder ein paar Verpflegungsbons extra gebrauchen.“
„Verpflegungsbons?! Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen? Dafür ist doch seit kurzem die ‚öffentliche Tafel‘ zuständig, die mit freundlicher Unterstützung einiger städtischer Unternehmer unter der Schirmherrschaft unseres werten Herrn Oberbürgermeisters eröffnet wurde.
Doch apropos Holzhacken, da verdienen Sie sich wohl heimlich, still und leise noch ein paar Euro zu Ihrem Sozialgeld hinzu, wenn ich Sie recht verstanden habe? Sie wissen doch, daß Sozialbetrug mit Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren geahndet werden kann?“
„Ist doch gar nicht so, wie Sie vermuten, Herr Oberstaatsalmosier.
Mach' ich doch bloß aus guter Laune und reiner Nächstenliebe.
Wenn dann mal 'n anständiger warmer Eintopf dabei rausspringt, dann werd' ich den natürlich nicht ablehnen.
Man hat ja immer heftigen Appetit, wenn man immerzu da draußen herumfaulenzen muß an der frischen Luft. – Apropos Gefängnis, Herr Oberbettelvogt, eine warme gemütliche Zelle käme mir zu dieser Jahreszeit wirklich wieder mal zupaß.
Ist ja heutzutage unwahrscheinlich schwer geworden, so'n Pensionsplatz hinter Gittern zu ergattern.“
„Das könnte Ihnen so passen, Sie Schlawiner“, grollte Schleicher, schelmisch mit seinen dürren Fingern drohend.
„Kommen Sie mir ja nicht auf dumme Ideen, die würde Ihnen unser Oberinspektor Böck schon gehörig austreiben! Und was Ihre Langeweile betrifft, dazu ist mir und dem Herrn Oberbürgermeister erst kürzlich eine geniale Gegenmedizin eingefallen, die sie bereits ab nächsten Montag früh persönlich ausprobieren dürfen.
Wir haben nämlich beschlossen, alle halbwegs gesunden Langzeitarbeitslosen unserer Kommune in Zukunft jeden Morgen pünktlich um acht Uhr in der Frühe zum Rapport auf dem Rathausplatz antreten zu lassen.
Auf diese Weise werden wir in Bälde feststellen können, wieviel wahrhaft arbeitswillige Hartz‑IV-Empfänger sich denn eigentlich unter diesem immer größer werdenden Haufen von Drückebergern und Bettlern in unserer Stadt in Wahrheit befinden.
Wir sind nämlich zu der Überzeugung gekommen, daß ein gutes Drittel aller staatlichen Almosenempfänger nur zu faul zum arbeiten ist – oder noch schlimmer, irgendwelchen illegalen Beschäftigungen nachgeht! Mit diesen Sozialbetrügereien wird es bei uns jetzt aufhören! Für einen Euro pro Stunde werdet ihr also fortan eine ausgezeichnete Gelegenheit finden, eure überschüssigen Kraftressourcen mit Straßenkehren, Papierkörbeleeren und anderen niedrigen Arbeiten zum Wohle unserer Stadt und ihrer Steuer zahlenden Bürger auszutoben.“
Schleicher machte nach dieser langen Ansprache eine kurze Pause, um sein Schreibtischschubfach zu öffnen und einen Stapel vorgedruckter Formulare boshaft grinsend zum Vorschein zu bringen.
Er suchte eine Weile, fischte sich endlich einen Zettel aus dem Haufen und fuchtelte mit diesem freudestrahlend vor Rudis roter Erdbeernase herum.
„Voilà, Ihr Einberufungsbefehl, den Sie bitte gleich am Montag früh Herrn Oberinspektor Böck, der euch arbeitsscheues Gesindel in die Arbeit einteilen wird, zur Unterschrift vorlegen werden.
Das Tagesgeld gibt es dann zum Dienstschluß um 14 Uhr auf dem Rathaus, vorausgesetzt, ihr habt die euch aufgetragenen Arbeiten zur allseitigen Zufriedenheit erfüllt.“
Rudi von Wurstig fühlte sich wohl zum ersten Mal in seinem Leben sprachlos.
Das konnten die doch mit einem wie ihm nicht anstellen!
„Sie dürfen jetzt wegtreten!“, bellte jetzt Schleicher ungeduldig, „schließlich habe ich noch die Kanakenhorde da draußen abzufertigen. – Ach ja, Ihr Wochenendgeld, das hätte ich bei all dem Stress ja beinahe vergessen.“
Schleicher faßte sich scheinheilig an den Kopf und beförderte dann eine kleine Kassette zu Tage, aus der er Rudi ein paar zerknüllte Scheine und etwas Hartgeld in die Hand drückte.
Als knausriger Bürokrat achtete er immer sorgfältig darauf, daß der Almosenempfänger nur die abgegriffensten Scheine und Münzen seines Schatzkästchens erhielt.
„Bevor Sie von hier verschwinden, sagen Sie mir doch noch, wo Sie denn heute Nacht schlafen wollen, nachdem Sie ja heute früh erfolgreich aus Ihrem Schlummerfaß vertrieben worden sind?“
Jetzt war es Rudi, der auf einmal hämisch grinste, sich mit dem Finger an die Schläfe tippte und dann ohne eine Antwort zu geben gemütlich vor sich hinpfeifend aus dem Zimmer stolzierte, die Tür sperrangelweit hinter sich geöffnet lassend.
Und Ulf Schleichers Unterkiefer öffnete sich fast ebenso sperrangelweit vor Verblüffung über diese neuerliche Unverschämtheit dieses arbeitsscheuen Subjekts, dem er auch beim besten Willen nicht wirklich Herr zu werden vermochte.