Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

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18

Gleich am nächsten Morgen gab Langbein die korrigierten Aufgaben an seine Schüler zurück. Er erwies sich dabei als ein Pädagoge der alten Schule, der es verstand, die Spannung bis auf den Siedepunkt zu treiben, indem er diejenigen seiner Zöglinge, die guten Leistungen erbracht hatten, überschwänglich lobte, diejenigen aber, denen es offensichtlich an mathematischer Begabung gebrach, vor versammelter Klasse auf sarkastisch-boshafte Weise der öffentlichen Schande preisgab. Diesem hehren pädagogischen Ziele folgend, begann er seine Show mit der Rückgabe der besten Arbeiten.
„Es ist mir eine aufrichtige Freude, gleich zu Beginn unserer Unterrichtsstunde Herrn Willy Pfeffke nach vorn bitten zu dürfen“, begann er salbungsvoll das dramaturgisch in Szene gesetzte Tribunal. Willy stand sogleich auf und tat einen kleinen Schritt nach vorn und einen noch kleineren nach links, um nach einem kurzen herzlichen Händedruck seine Arbeit in Empfang zu nehmen.
„Neunzehneinhalb Punkte von zwanzig möglichen, das ist wirklich eine außergewöhnliche Leistung. Daran können Sie sich alle andern ein großes Vorbild nehmen“, verkündete der Herr Oberlehrer seinem Publikum, um sich dann wieder zackig seinem Musterschüler zuzuwenden:
„Machen Sie weiter so, Pfeffke, und ich bin sicher, Sie werden eine glänzende Karriere in unserer Firma machen.“
Es machte nichts, daß Langbein, der wieder einmal in seine Feldherrenrolle geschlüpft war, vergessen oder aber auch absichtlich darauf verzichtet hatte, die Anrede „Herr“ vor Willys Familiennamen zu setzen. Der Belobigte fühlte sich trotzdem oder eben gerade deswegen vor den anderen ausgezeichnet, da er sich auf diese Weise dem Dunstkreis seines neuen Chefs nähergerückt fühlte.

Es sollte noch eine geschlagene Stunde dauern, bis sich Langbein endlich den drei letzten Kandidaten zuwenden konnte, die allesamt weniger als sechs Punkte vorzuweisen hatten, eine Leistung, die Langbein als „ungenügend“ bewerten mußte. Ehe er jedoch der traurigen Pflicht nachkam, auch diese verkorkstesten Arbeiten seinen Schülern vorzustellen, befahl er eine fünfzehnminütige Erholungspause, die wegen der unerträglichen Hitze im Seminarraum, der direkt unter dem Dach lag, auch dringend nötig war.

Enrico, einer der drei noch unabgefertigten Unglücksraben, brachte es kaum fertig, seine mitgebrachte Stulle zu verzehren. Er wäre womöglicherweise an den trockenen Brotkrümeln erstickt, die er verzweifelt hinunterzuschlucken versuchte, wenn die Firma nicht so reichlich Kaffee spendiert hätte. Der übermäßige Koffeingenuß hatte aber zur Folge, daß Enrico bei der Rückkehr ins überhitzte Seminarzimmer ganz schlimm ins Schwitzen geriet, während seine Hände zitternd vor Aufregung auf seiner Bank den Radetzkymarsch trommelten. Seiner magersüchtigen Banknachbarin ging es nicht viel besser. Auch sie saß nervös schluckend in ihrer Ecke, ihr Gesicht noch einen Grad blasser als gewöhnlich.

Es dauerte fast zehn Minuten bis Herr Langbein wieder erschien, der angeblich noch unaufschiebbare geschäftliche Dinge zu klären gehabt hatte.
„Als leitender Mitarbeiter von VVV, der während seiner langjährigen Betriebskarriere bereits 41.600 Menschen vermittelt hat, ist man eben absolut unentbehrlich“, erklärte er seine Verspätung.
„Doch nun hurtig-hurtig weiter im Programm, da Sie, wie ich mit Genugtuung bemerke, schon alle ungeheuer gespannt sind, die drei noch ausstehenden imposanten Arbeiten vorgestellt zu bekommen. Darf ich Ihnen nun unseren Kandidaten mit fünf Punkten präsentieren, Herrn Zbigniew Podorowiecki. Kommen Sie doch bitte mal nach vorn, denn das wäre Ihr Preisch geweschen!“
Herr Langbein war nun in die Rolle eines Zirkusimpressario geschlüpft. Er machte einen Hänschen-Rosenthal-verdächtigen Hüpfer, rollte dazu mit den Augen und packte schließlich Herrn Podorowiecki, einen älteren, etwas schwerfälligen aus Polen stammenden Herrn, der sich um seine makabere Zurschaustellung drücken wollte, am Ärmel, um ihn zu sich nach vorn ans Lehrerpult zu zerren.
„Aber Herr Podorowiecki, warum denn so schüchtern, ich will Ihnen doch gar nichts tun. Ich bin sicher, nach einigen zusätzlichen Übungsstunden werden wir aus Ihnen noch einen handfesten Deutschen machen. Das kleine Einmaleins scheint man Ihnen ja schon halbwegs in Ihrer Heimat beigebracht zu haben, und mit dem Wurzelziehen werden wir auch noch irgendwie fertig werden.“
Langbein machte eine hämische Geste, die offensichtlich einen schlechten Scherz auf das reparaturbedürftige Gebiß des alten Mannes darstellen sollte. Dieser entriß dem boshaften Clown aber nur wortlos den Zettel, kehrte auf seinen Platz zurück, schnappte sich seine Tasche, Jackett und Hut und verließ das Zimmer ohne einen Gruß, die Tür geräuschvoll hinter sich zuschlagend.
Langbein schien einen Moment aus dem Konzept gebracht, denn mit einer solchen heftigen Reaktion seines Opfers hatte er nicht gerechnet. Seine gute Laune schien mit einem Male etwas angekratzt, was der nächsten Kandidatin, dem bleichen Mädchen, zugute kam. Langbein enthielt sich diesmal eines jeden zynischen Kommentars, murmelte nur mißmutig „dreieinhalb Punkte“ und brachte dem verdutzten Mädchen höchstpersönlich die verunglückte Arbeit an den Tisch. Dabei streiften seine Blicke Enrico, der es bis zu diesem Zeitpunkt außerordentlich geschickt verstanden hatte, sich dezent im Hintergrund zu halten. Sofort leuchteten Langbeins Augen zynisch funkelnd auf. Es schien, als habe er gerade ein neues Opfer entdeckt, an dem er seine soeben erlittene kabarettistische Niederlage genußvoll rächen konnte.
„Ja, wer sind Sie denn?“, fragte er scheinheilig Enrico, dem die Schweißperlen über das vor Hitze und Scham gerötete Gesicht liefen. „Sind Sie etwa der ominöse Herr Walther, der sich letzte Woche hier eingeschrieben hat?“
Ehe Enrico etwas erwidern konnte, klopfte sich Langbein verdutzt an den Kopf.
„Moment mal, jetzt hab' ich's endlich: Sie sind doch das große Mathematikgenie, dessen Arbeit ich mir extra bis zum Schluß aufgehoben habe. Kommen Sie doch gleich einmal mit nach vorn an die Tafel, um ihren zukünftigen Kollegen ein paar schöne Exempel ihres hervorragenden Wissens zu liefern.“
Ein leichtes Gelächter durchlief jetzt den Seminarraum. Willy in der ersten Reihe krümmte sich sogar vor Lachen, während sich das blaße Mädchen nur noch weiter in ihren schattigen Winkel verkroch. Enrico folgte willenlos seinem Schlächter, ohne auch den leisesten Versuch von Widerstand zu wagen.
„Meine Damen und Herren, darf ich Ihnen nun einen besonders erfolgreichen Exponenten des sozialistischen Bildungssystems vorstellen, Herrn Enrico Walther. Ganze drei Punkte konnte ich dem Ex-Proleten mit Mühe und Not zuerkennen, das ist wirklich einen Applaus wert! Jetzt verstehe ich endlich, warum es mit dem Aufbau des Sozialismus bei euch so gut geklappt hat, hähähö.“
Da diesmal niemand seine humoristisch gemeinte Stilblüte goutierte, wendete er sich wieder abrupt dem vor Scham und Aufregung wie Espenlaub zitternden Enrico zu, um ihm ein Stück Kreide in die Hand zu drücken. Langbein wählte nacheinander drei relativ leichte Aufgaben aus, die Enrico in seiner Arbeit nicht zu lösen vermocht hatte. Mit Unterstützung seiner Mitschüler, das heißt, ausschließlich mit Willys Hilfe, der den anderen durch seine flotten Antworten kaum eine Möglichkeit gewährte, sich in das aktuelle Geschehen zu mischen, gelang es Enrico nach einigen Fehlversuchen schließlich, die richtigen Lösungen zu finden. Dank der im Zimmer lastenden Hitze wurden ihm für dieses Mal weitere Demütigungen erspart, da der größte Teil der Schüler allmählich in einen Dämmerschlaf verfallen war, dem auch Langbeins pädagogischer Eifer nichts mehr entgegenzusetzen vermochte. Frustriert knurrte dieser deshalb nach einer Weile:
„Ich glaube, das dürfte für heute genügen. Wir sehen uns also morgen früh pünktlich um 8 Uhr 30 wieder.“