Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
17
Ungewöhnlich schnell hatte Enrico sein „o.k.“ vom Arbeitsamt bekommen, so daß er bereits am folgenden Montag mit seiner Einführungswoche beginnen konnte, genau wie sein Schwager Willy, der ihm jedoch von Anfang an möglichst aus dem Weg ging.
Die ersten beiden Tage verliefen recht angenehm.
Herr Langbein führte das auf zwölf Personen zusammengeschmolzene Grüppchen zunächst durch die Räume der Telefonzentrale, um es dort mit der modernen technischen Ausstattung seiner Firma und ihrer zukünftigen praktischen Arbeit bekannt zu machen.
Voller Stolz deutete er auf die emsig telefonierenden Damen und Herren, die in Glasverhauen hockten.
„Schauen Sie nur, die werden von uns per Predictive Dialer permanent mit Kunden verbunden.
Ein andauerndes Anwählen der Nummern per Hand, wie in alten Zeiten üblich, wäre nämlich für einen HighTech-CallCenter, wie wir es sind, einfach lächerlich.
Wir schaffen auf diese Weise eine 80 % höhere Kontaktquote, stellen sie sich das nur einmal vor“, lobte er vor Stolz schwellend die modernen Arbeitsbedingungen in seiner Firma.
„Das bedeutet logischerweise für die Mitarbeiter großen Stress.
Doch auch daran haben wir gedacht.
Alle fünfzig Minuten gibt es zehn Minuten Zwangspause, im Rotationsverfahren.
Wird die nicht eingehalten, dann kann ich wirklich böse werden.
Ich werde natürlich kein begonnenes Telefonat unterbrechen, so brutal sind wir denn auch wieder nicht.
Für die Pausen stellen wir kostenlos Kaffee zur Verfügung, wer will, kann sich auch Tee mitbringen.
Und auch Obst gibt es bei uns natürlich gratis.“
Voller Stolz deutete er auf die Snack-Nische, die sich am hinteren Ende des langgestreckten Saales befand.
Drei Mitarbeiter hatten es sich dort gerade bequem gemacht, nervös mit einem Löffel ihre Tasse Kaffee umrührend.
„Wie Sie bald bemerken werden, gibt es recht verschiedene Gesprächsgewohnheiten.
Der eine redet etwas länger, andere fassen sich etwas kürzer.
Das kann ein jeder so halten wie er will.
Was für uns zählt, das ist einzig die Qualität der Telefonate und natürlich auch die verlangte Quote von drei erfolgreichen Anrufen pro Tag, die lassen sich mit ein bißchen Geschick aber bestimmt ganz leicht schaffen.
„Haben Sie denn schon einmal etwas vom Multi-Channel-Kontakt gehört?“, fragte er plötzlich das Thema wechselnd.
„Noch nicht? Na, das werden wir Ihnen sehr bald beibringen.
Wir werden Sie übrigens in zwei Gruppen teilen müssen, wegen der Früh- und der Spätschicht.
Von 8 Uhr 30 bis 14 Uhr 30 dauert die Frühschicht, von 14 Uhr 30 bis 20 Uhr 30 die Spätschicht.
Kann mir einer sagen, weshalb wir nicht schon um 7 Uhr früh beginnen und am Abend unsere Mitarbeiter schon so zeitig nach Hause schicken?“
Darauf wußte Willy sofort eine Antwort und Herr Langbein ergänzte: „Ich schlafe zwar recht wenig.
Aber wenn mich einer um 23 Uhr anruft, wie es mir schon passiert ist, dann finde ich das höchst unseriös.
Doch nun folgen Sie mir bitte zu den Waschräumen, die Sie selbstverständlich auch jederzeit benutzen dürfen.“
Den Rest der Zeit verbrachten sie im Seminarraum, wo sie viele nützliche Informationen aber auch eine Menge langweiliger Theorie zu Gehör gebracht bekamen. Besonders Schwager Willy bewies sich als ein vorbildlicher Auszubildender, der des Morgens mit einer schweren Aktentasche unter dem Arm geklemmt erschien, um dann umständlich sein neu erstandenes großes Schreibset nebst einem Wulst an Papieren genüßlich vor sich auf dem Tisch auszubreiten. Es war eine richtige kleine Ausstellung, auf die die anderen neidisch aus der Ferne schielten, denn Willy hatte sich die Schulbank in der ersten Reihe allein für sich reserviert. Enrico hatte sich ganz hinten links in der vierten Reihe ein Plätzchen gesucht, neben einem magersüchtigen Mädchen, das andauernd an seinen Fingernägeln kaute, ihm ansonsten aber nett und anständig vorkam.
Am Mittwoch hatten sie ihre erste schwere Hürde zu bestehen. Lehrer Langbein hatte sich entschieden, seine neuen Schößlinge auf ihre mathematischen Fähigkeiten zu prüfen. Zu diesem Behuf teilte er gleich am Morgen an alle karierte Blätter mit zwanzig Rechenaufgaben aus, deren Schwierigkeitsgrad sich nach dem Ende zu immer mehr steigerte, wie Enrico bestürzt bemerkte. Hatte er für die ersten fünf Aufgaben nicht einmal zehn Minuten gebraucht, so war er nach einer halben Stunde erst bei Übung 8 angelangt. Und auch als Langbein nach einer Stunde die mit mathematischen Hyroglyphen bekritzelten Zettel wieder einsammelte, war er noch nicht weiter als bis zu Übung 10 gekommen, denn mit Wurzeln und Brüchen kannte er sich gar nicht aus. Da konnte ihm auch sein Taschenrechner nicht weiterhelfen, dessen Gebrauch ihnen ausdrücklich erlaubt worden war.