Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
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Am nächsten Tag, einem Montag, bestieg Enrico gegen Mittag einen der nur noch selten verkehrenden Busse in die Bezirksstadt, denn er mußte sich dort so schnell wie möglich beim neu hergerichteten Jobcenter für Langzeitarbeitslose anmelden, da er als getrennt lebender Ehemann in Zukunft nicht mehr auf Gerdas finanzielle Unterstützung rechnen konnte. Er selbst hatte noch vor gar nicht allzu langer Zeit, als die Wirtschaft noch halbwegs geklappt und sein Heimatbezirk zu den fortgeschrittensten Industrieregionen des Landes gezählt hatte, ein klein wenig dabei mitgewirkt, das riesige mehrstöckige Fabrikgebäude aus der „guten alten Zeit“ von Grund auf zu sanieren, um der steigenden Zahl von Jobsuchenden einen sozial verträglichen Abstieg auf möglichst hohem Niveau zu ermöglichen. Leider Gottes war sein durchaus nicht böse gemeinter Solidarbeitrag gar zu bald von Herrn Schleicher, seinem damaligen Arbeitsberater, entdeckt und unterbunden worden. Nun sollte Enrico das in frischen Farben erstrahlende Gebäude aus einer völlig anderen Perspektive kennenlernen – jedoch nicht wie Herr Schleicher, der hier vor kurzem eine weitere Stufe auf seiner Karriereleiter als Beamter nach oben geschlittert war, nämlich als Fallbearbeiter in gehobener Stellung ohne allzu häufigen Direktkontakt zu seinen Opfern – sondern als frisch gebackener Hartz‑IV-Empfänger.
Die Erstbezieher von Stütze hätten den Seiteneingang linker Hand zu benutzen, erfuhr er von einem uniformierten Wachmann, der am Hauptportal postiert worden war und zu seiner persönlichen Sicherheit von einer zweiten grimmig vor sich hinblickenden Ordnungskraft gedeckt wurde.
Der bezeichnete Seiteneingang entpuppte sich als Einfallstor in eine große düstere Halle, die ihm wie eine Tiefgarage vorkam, und in der eine lange Schlange von Wartenden im Zickzack angestellt stand, um ihres ungewissen Schicksals zu harren.
Wo dieses lauerte, konnte Enrico wegen der schlechten Lichtverhältnisse nicht ausmachen.
Am Ende der Schlange hatte es sich ein langhaariger Typ mit roter Trinkernase und Aldi-Beutel bequem gemacht.
Enrico setzte eine möglichst lockere Miene auf, um sich vor dem „Assi“ nicht zu blamieren und erkundigte sich dann bei ihm lässig:
„Ist ja heute mächtig viel los.
Gibt’s denn schon Weihnachtsgeld, daß sich die Massen hier so drängeln?“
„Bist wohl neu hier, Kleener? Weihnachtsgeld wird doch schon lange nicht mehr ausgezahlt, müßteste eigentlich wissen.
Und von Menschenmassen ist heute wirklich ausnahmsweise mal nichts zu spüren.
Ansonsten ist hier nämlich viel mehr los.“
Der Kerl musterte ziemlich schamlos das strahlend weiße Hemd Enricos und fügte dann nach einer Weile grinsend hinzu:
„Der Aufnahmeschluß ist hier stets pünktlich um 12 Uhr 30, da biste diesmal wirklich 'n paar Minuten zu spät angewackelt, schätz‘ ich.
Ich bin hier nämlich immer der Bummelletzte und wurde beauftragt, weitere Einreihungswillige auf einen neuen Behandlungstermin morgen früh zu vertrösten.“
„Aber das gibt’s doch gar nicht, früher bin ich doch auch öfters erst am Nachmittag aufs Arbeitsamt gegangen, weil dann weniger Betrieb war“, empörte sich Enrico völlig erregt über den impertinenten Ton des Penners.
Er ließ ihn trotzig stehen und wendete sich an einen Vertreter des in der Halle für Disziplin sorgenden Ordnungspersonals.
Dieser hatte das Gespräch der beiden mit angehört und belehrte Enrico nun freundlich lächelnd:
„Da hat der Herr Rübewasser ausnahmsweise mal recht.
Sie haben sich genau zwölf Minuten zu spät angestellt.
Tut mir entsetzlich leid, da müssen sie schon morgen noch mal wiederkommen.
Da läßt sich nichts machen, wir ham nu mal feste Kundenzeiten.“
Von jähem Mitleid gepackt, steckte der Beamte Enrico einen kleinen weißen Zettel zu.
„Hier stehn unsere Adresse, Telefonnummer und Öffnungszeiten, damit so was in Zukunft nicht noch einmal vorkommt.
Kommen Se das nächste Mal am besten schon so gegen halb acht Uhr in der Früh‘, eine Stunde vor Einlaß.
Dann ham Se de besten Chancen, schon mit dem ersten Trupp abgefertigt zu werden.“
Er tippte an seine Dienstmütze und wies Enrico zum Ausgang, während der Aldi-Beutelmann ihm schadenfroh-kumpelhaft nachwinkte.
Enrico eilte hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.
Auf der Rückfahrt im Bus gingen ihm eine Menge zorniger Gedanken durch die gestreßten Hirnwindungen. Nicht zumutbare Schikane, Unterdrückung, Arbeitsgericht und Klassenkampf funkten ihm als thematische Schwerpunkte nacheinander durch den Kopf, aber sein revolutionärer Elan verflog recht schnell, als er daran dachte, daß er am nächsten Morgen in aller Frühe noch einmal den gleichen Bußgang nach Canossa mit ungewissen Ausgang antreten mußte.