Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
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Am Dienstagmorgen stand Enrico schon früh um fünf Uhr auf. Zu DDR-Zeiten hatte um diese Zeit schon seine Frühschicht begonnen, da sollten „die“ vom Amt nur mal versuchen, ihm etwas vormachen. Er verzichtete auf seinen morgendlichen Kaffee und stürzte sich bereits kurz nach sechs nach draußen, um ja nicht den ersten Bus in die Bezirksstadt zu verpassen.
Es empfing ihn ein trüber nasser Augusttag, viel zu kalt für die sommerliche Jahreszeit. Der Regen fegte wild über die Straßen und im Nu waren seine löchrigen Halbschuhe durchnäßt. Doch ihm machte das scheinbar nichts aus, er sprang tollkühn über die Pfützen, mutig voranschreitend, ohne Zagen dem Busplatz und seinem zukünftigen HIV-Empfängertum entgegen. Nach halbstündiger Busfahrt und einem fast genauso lange dauernden Fußmarsch traf er bereits um halb acht Uhr zum zweiten Mal vor den Pforten des Jobcenters ein.
Schon zu diesem frühen Zeitpunkt, eine ganze Stunde vor dem offiziellen Einlaß, hatte sich ein kleines Trüppchen Unentwegter versammelt, unter ihnen viele Ausländer, wie Enrico sogleich bemerkte, nachdem er ihre dunklen Gesichter neugierig gemustert hatte. Einige von ihnen gehörten wohl zu jenen beflissenen Arbeitslosen, die sich bis spätestens zehn Uhr auf ihrer illegalen Baustelle einfinden mußten. Die magere Unterstützung des Amtes, ergänzt durch den auf dem Bau gezahlten Hungerlohn, sicherte ihnen und ihren Familien geradeso ein bescheidenes Auskommen. Daß ihr aus purer Not geborenes Tun von der privilegierten deutschen Beamten- und Juristenschaft als „illegale Straftat“ geächtet wird, kann jemanden, der sich ein wenig in der Materie auskennt, höchstens ein verständnisloses Kopfschütteln entlocken. Wieviel lieber würden sie allesamt einen anständig bezahlten Job angenommen haben, anstatt eine scheelblickende Gesellschaft um ein nur widerwillig ausgezahltes Almosen anbetteln zu müssen. Nur blinde Borniertheit ist imstande, sich in ihrem Falle als Kläger aufspielen zu wollen.
Enricos frühes Aufstehen machte sich bezahlt Er durfte sich in die Avantgarde der lumpenproletarischen Einheitsfront einreihen, die unter dem Vordach der Eingangspforte Schutz vor dem Regen gefunden hatte, der nun in Strömen vom Himmel platschte, als wolle er die wenigen winzigen verbliebenen Krümel Hoffnung des verschworenen Häufleins mitleidlos in die Gosse schwemmen.
Während der folgenden Stunde wandelte sich die Szene total. Bis 8 Uhr 30 hatte die Schlange der Wartenden eine Länge von knapp hundert Metern erreicht. Es hätte nicht mehr viel gefehlt, und das äußerste Schwanzende der einem riesigen Feuchtbiotop-Reptil ähnelnden Menschenschlange wäre um die Gebäudeecke herum Enricos erstaunten Blicken entschwunden. Alt und Jung, Mann und Weib, Gesund und Krank, Arm und Bettelarm, Holz- und Gipsbein –alles stand da im strömenden Regen, ohne ein Wort der Klage oder des Verzweifelns zu verlieren. Es herrschte eine beunruhigende Stille, die nur durch das Tropfen des Regens auf die Schirme, Hüte und auch bloßen Köpfe der Wartenden ein wenig entspannt wurde.
Wenige Minuten nach halb neun öffneten sich endlich die amtlichen Pforten und die Menge strömte in die Tiefgarage. Alles ging erstaunlich schnell und diszipliniert vor sich, nach besten Kräften unterstützt durch das zahlreich vertretene Wachpersonal, das den Menschenfluß geübt in geordnete Bahnen zu lenken verstand. Nur relativ wenige blieben auf der Strecke, so z.B. ein junger Mann mit Krücken, der nicht Schritt halten konnte und eine magere Mutti mit Kinderwagen, die es nicht wagte, ihren Säugling der immer stärker aufwallenden Humanströmung auszusetzen, und deshalb besorgt zur Seite trat. Die Halle faßte ca. 500 Stehplätze, so daß keiner noch länger draußen in der Nässe verharren mußte, abgesehen von einigen wenigen unbelehrbaren Rauchern, die sich nicht von ihren Stummeln trennen konnten und die für die Befriedigung ihrer Sucht sogar bereit waren, auf die knappen Logenplätze zu verzichten.
Auch Enrico hatte einiges an Vorsprung eingebüßt, da er durch seine ungezügelte Neugierde den Startschuß verpaßt hatte. Als die Menschenschlange endlich langsam in ruhigere Gewässer triftete, mußte er sich mit einer nur mäßig befriedigenden Mittelfeldposition um Platz 180 herum begnügen, wurde dafür aber, nun in der Mitte der Galaxis schwebend, mit einer relativ guten Aussicht auf den Volksauflauf belohnt, der sich vor und hinter ihm in mäßigem Tempo dahinschlängelte. Ein Trupp emsiger Ordner rückte hurtig mehrere Reihen von Hürden zu Reihen auf, jedoch nicht für einen Hindernislauf, wie Enrico für eine Schreckenssekunde befürchtet hatte, sondern, durch rot-weiße Absperrbänder miteinander verbunden, bedarfsgerecht als Korridorbegrenzungen eingesetzt. Ein weiterer Vollzugshelfer wies die hereinströmende Flottille an, wie beim Slalom die aufgereihten Hindernisse zu umschiffen, was sich als gar nicht so schwierig erwies, da mittlerweile die „deutsche Heimatfront“ in der Menschenmasse überwog und die fremdstämmigen Leidensgenossen in den behördlich verordneten Schlängellauf erfolgreich zu integrieren vermochte. All das ging ohne ein einziges böses oder aufmüpfiges Wort vor sich, war sich doch jeder einzelne bewußt, im selben havarierten Boot zu sitzen. Schließlich fand eine Schlangenlinie von etwa 100 Metern im Kellerraum Platz, die jedoch keineswegs zum Stehen kam, sondern sich mit einer durchschnittlichen Verkehrsgeschwindigkeit von 1,5 km/h langsam aber sicher voranwälzte. Ehe es sich Enrico versah, eröffnete sich vor ihm eine zweite Tiefgarage, in die er durch eine finstere Öffnung am äußersten Ende der Empfangshalle wie durch einen engen Gullydeckel mit erhöhter Fließgeschwindigkeit gespült wurde, gemeinsam im trauten Reigen mit seinen Schicksalsgefährten vor und hinter ihm. Diese zweite Halle hatte ungefähr das selbe Raumvolumen wie ihre Vorgängerin und wurde durch eine ähnliche Verkehrsregelung wie der erste Etappenabschnitt sinnreich abgeteilt. Die Beleuchtungsverhältnisse gestalteten sich hier aber bereits viel besser, so daß manch einer der in Strömung versetzten Schiffbrüchigen seine unter den Arm geklemmte Zeitung hätte lesen können, wenn ihm dazu die Zeit verblieben wäre.
An der gegenüberliegenden Frontseite waren zehn Schalter wie bei der Bahn eingerichtet, nur daß hier die Kundenbedienung ungefähr zehnmal schneller verlief, als bei der für ihre Flinkheit hinlänglich bekannten Institution. Junge emsige Beamte verteilten nach kurzem Anhören des jeweiligen Begehrs der nacheinander an Land Gespülten kleine Zettelchen, auf denen sie drei Ziffern notiert hatten, denn von nun an mußten die Rettung Suchenden unterschiedliche Wege nehmen. Bei der ersten Ziffer handelte es sich um eine römische, die das anzusteuernde Stockwerk angab, drei Stück insgesamt, die beiden folgenden arabischen Zahlen gaben die Nummer des Warteraums an, in dem die abgetakelten Kutter nach grob geschätztem Schrottwert vor Anker gehen sollten. Enricos Zettel lautete auf „I 29“. Ein Lotse wies ihn nach links, Erdgeschoß, vierte Tür, linke Seite. Sein Nachfolger, ein grauhaariger Hippietyp mit Cowboyhut, wurde in die entgegengesetzte Richtung gewiesen, um ins zweite Stockwerk des Gemäuers hochzusteigen.
Auf dem Weg zu seinem Wartesaal wurde Enrico auf dem Korridor ein weiterer Zettel zugesteckt, auf dem diesmal seine Aufrufnummer gedruckt war.
Er bekam die Nr. 111, befand sich also immer noch im Mittelfeld, da in dieses Wartezimmer besonders viele Schiffbrüchige geleitet wurden, nämlich alle Hartz‑IV-Neubewerber.
Hier gab es endlich genügend Sitzmöglichkeiten und Enrico holte seine BILD-Zeitung aus der Tasche, um sich die vermutlich etwas länger währende Wartezeit am Kai durch leichte Lektüre ein wenig zu verkürzen.
Doch er hatte sich gründlich verrechnet.
Ein Ordner rief nahezu alle zehn Sekunden eine neue Nummer auf, so daß Enrico bereits nach einem knappen Viertelstündchen an die Reihe kam.
Er wurde aufgefordert, wieder in den Korridor zurückzukehren, aus dem er soeben gekommen war, um sich neben weiteren Kandidaten an einer Wand zu postieren, die Tasche mit den Akten brav unter den Arm geklemmt.
Immer wieder eröffneten sich Türen zum Flur, durch die einer nach dem anderen am Arm eines Bearbeiters verschwand, um nach kurzer Zeit abgefertigt wieder in entgegengesetzte Richtung den Kanal hinunterzugondeln.
Es dauerte nur wenige Augenblicke bis zu Enricos Abfertigung, so hervorragend funktionierte hier das Timing.
In Windeseile wurden seine persönlichen Daten in den Computer getippt und ihm ein mehrseitiges Antragsformular ausgehändigt.
„Wann kann ich denn mit der ersten Zahlung rechnen?“, wagte Enrico die junge Dame am Computer zu fragen, als diese mit dem Dateneingeben fertig geworden war und sich zu seiner Verabschiedung anschickte.
„Sie müssen wissen, ich habe gerade eine neue Wohnung bezogen, …“
„Bis die endgültige Höhe ihres ALG‑II-Bezuges errechnet sein wird, dürfte noch einige Zeit ins Land gehen, Sie sehen ja selbst, was wir für einen Andrang wir hier haben, seitdem wir aus Rationalisierungsgründen umgezogen sind.
Aber machen Sie sich mal keine Sorgen, Sie werden bereits zum nächsten Monatsanfang einen vorläufigen Betrag überwiesen bekommen.
Sollten sie die zwei Wochen bis dahin partout nicht auskommen, dann können Sie eine Vorauszahlung beantragen, die Ihnen später wieder abgezogen wird.
Das Antragsformular hierfür kann ich Ihnen gerne geben.“
„Nein danke, so lange werde ich schon noch hinkommen, glaube ich“, erwiderte Enrico erleichtert, während er von seinem Stuhl aufstand und der hilfreichen Angestellten dankbar die Hand schüttelte.
„Bevor Sie wiederkommen, versäumen Sie nicht, sich vorher über dem Servicetelefon unseres Amtes einen Termin bei Ihrem neuen Bearbeiter geben zu lassen, dann brauchen Sie sich nicht noch einmal unten anzustellen.
Sie besitzen ja jetzt eine Nummer.
Viel Erfolg.“
Hoch erfreut über seinen hierarchischen Aufstieg, der so problemlos vor sich gegangen war, machte sich Enrico schnellstmöglich aus dem Staub. Seine schlechte Laune war auf einmal wie weggeweht. Beim Hinausgehen grüßte er wohlgemut den Mann auf Krücken, der es mittlerweile ebenfalls bis an den Schalter geschafft hatte und fiel an der Ecke zum Ausgang fast über den Kinderwagen der noch abzuwickelnden Mutti, die sich gerade eine neue Kippe in den Mundwinkel steckte.
Von neuem Mut erfüllt, eilte Enrico hinaus ins Freie. Seine klassenkämpferischen Gedanken vom Vortag waren entschwunden, ohne den leisesten Schatten zu hinterlassen. Und der frische Wind hatte während der knappen Stunde, die er auf dem Amte verweilen durfte, alle tränentrüben Wolken fortgeweht. Die Sonne lächelte ihm jetzt verlegen zu, als wollte sie sich für ihr Zuspätkommen entschuldigen. Wackeren Schrittes eilte er voran, mit seinem trüben Schicksal beinahe ausgesöhnt. Es war ihm soeben gelungen, eine weitere Hürde seines sozialen Abstiegs ohne allzu schmerzhafte seelische Blessuren zu nehmen.