Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
12
Noch am gleichen Nachmittag machte sich Enrico auf den Weg, seine kranke Großmutter zu besuchen. Um nicht eine Stunde auf den Stadtbus warten zu müssen, eilte er zu Fuß den steilen Berg hinauf, zum städtischen Krankenhaus, das dort hoch über der Stadt direkt am Waldesrand thronte. Ehe er sich an der Rezeption nach Lieselottes Verbleib erkundigte, kaufte er für sie noch schnell bei einem vietnamesischen Händler, der sich mit seinem Stand vor dem Haupttor postiert hatte, einen Strauß Blumen, um nicht ganz mit leeren Händen bei ihr anzukommen. Er wurde zur Station 15 verwiesen, in der viele altersschwache Patienten untergebracht waren, bei denen man sich keine großen Hoffnungen mehr auf eine baldige Genesung machte.
Eine Schwester führte ihn in ein Einzelzimmer, wo Großmutter, durch Spritzen ruhig gestellt, bewegungslos in einem Bett lag.
Da kein Arzt zum Wochenende anwesend war, mußte er sich mit den knappen Informationen der Stationsschwester zufrieden geben, die ihm mitteilte, daß Herz und Kreislauf der Patientin sehr stark angegriffen seien.
Man hoffe aber trotzdem, daß sich ihr Befinden in einigen Tagen wieder etwas bessern würde.
„In ihrem Alter ist aber alles möglich, Sie müssen also mit dem Schlimmsten rechnen.
Bleibt zu hoffen, daß ihr Herz durchhält.
Eine völlige Genesung halten die behandelnden Ärzte aber eher für unwahrscheinlich.
Eine spätere Unterbringung in einem Pflegeheim könnte sich daher als erforderlich erweisen.“
Enrico beugte sich behutsam über die alte Dame und strich ihr über die verkrampften Finger.
Er flüsterte ihr leise einige Worte zu, die seine schmerzliche Anteilnahme an ihrem Leid ausdrücken sollten.
„Sie brauchen sich wirklich nicht zu bemühen“, sagte die Schwester, die hinter ihm stehen geblieben war und sein hilfloses Bemühen um Kontaktaufnahme mit der alten Frau beobachtet hatte.
„Frau Hille wird höchstens in zwei bis drei Tagen wieder ansprechbar sein.
Sie müssen sich also mit ihrem Gespräch noch etwas gedulden.“
Geschockt von dem unerwarteten Verlust seiner letzten Verbündeten, stand Enrico plötzlich auf.
Völlig verwirrt überreichte er der Stationsschwester die mitgebrachten Blumen, sie verlegen darum bittend, sie seiner Großmutter in einer Vase an das Bett zu stellen.
Dann murmelte er noch einen undeutlichen Gruß, um sich durch die angelehnte Tür nach draußen davonzuschleichen.
Auf dem Korridor traf er auf seine Eltern, die soeben mit seinen beiden Kindern mit dem Stadtbus angelangt waren.
Während seiner Mutter ein überraschtes mattes „Du hier“ entfuhr, nickte ihm sein Vater nur kurz zu, sein Gesicht zu einer mißlaunigen Grimasse verziehend.
Ihm war es anscheinend äußerst peinlich, seinem Sohn in der Öffentlichkeit, und sei es auch nur auf diesem verlassenen Krankenhauskorridor, zu begegnen.
Sandra und René flüsterten ein verschüchtertes „Hallo Papa“, wurden aber sofort von ihren Großeltern weiter in Richtung Patientenzimmer gedrängt.
Enrico war sich von vornherein im klaren gewesen, daß er in seiner gegenwärtigen schwierigen Lage keinerlei Hilfe von seinen Eltern erwarten durfte. Diese hatten sich schon immer mit Gerda und den Kindern solidarisiert, wenn es irgendwelche familiäre Streitigkeiten gegeben hatte. Die Hauptschuld an diesem schlechten Eltern-Sohn-Verhältnis trug zweifellos Vater Erhard, der schon während Enricos Schulzeit andauernd an den seiner Meinung nach viel zu schlechten schulischen Leistungen seines Sohnes herumgenörgelt hatte. Als sich dann auch noch herausstellte, daß Enrico nur mäßig handwerklich begabt war und es zudem auch noch an jeglichem Eifer fehlen ließ, irgendwann einmal seinen Meisterbrief in einem handwerklichen Beruf zu machen, da wurde er von seinem Vater endgültig als „Versager“ abgeschrieben. Denn dessen allergrößter Wunsch war es zeitlebens gewesen, daß sein Sohn einmal stolzer Besitzer einer eigenen kleinen Werkstatt werden würde, ein Wunsch, den er sich selbst persönlich nie hatte erfüllen können, da dies die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse leider nicht zugelassen hatten. „Wegen des verfluchten Kommunistenpacks“, wie sich Erhard Walther mitunter grob nach dem Genuß einiger Gläser Bier mit seinen beiden Schwiegersöhnen auszudrücken pflegte. Fortan wurden nur noch Enricos beide älteren Schwestern als Hoffnungsträger der Familie gefördert und ihrem ungeratenen Bruder bei jeder sich bietenden Gelegenheit als „strahlende Vorbilder“ präsentiert. Selbst deren alles andere als beruflich erfolgreichen Ehegatten konnten sich einen Stein im Brett des tyrannischen Vaters sichern, teilten sie doch in allem seine Meinung, insbesondere was den Fall Enrico betraf, dem ausgemachten „Sündenbock der Familie“. Um dieser „bedauerlichen genetischen Fehlentwicklung“ wenigstens im zweiten Glied vorzubeugen, fühlte sich Erhard Walther ganz besonders für die Erziehung von Enricos Kindern verantwortlich, die er der Fürsorge seiner Gattin anempfahl, um sie möglichst fern von ihrem unseligen Vater zu halten. Mutter Erna fügte sich widerstandslos den bornierten Ansichten ihres Mannes, ohne jemals in ihrem Eheleben gewagt zu haben, diesem auch nur ein einziges Mal im mindesten zu widersprechen. Vielleicht litt sie heimlich unter ihrem im Alter immer mürrischer werdenden Ehemann, doch ließ sie sich davon in der Öffentlichkeit nicht das geringste anmerken. Selbst ihre Mutter Lieselotte, charakterlich ganz das Gegenteil ihrer verzagten Tochter, konnte nicht das mindeste gegen ihr serviles Verhalten ausrichten. Ihrer Meinung nach war ihre Erna diesem „Grobian von Schwiegersohn“ gänzlich verfallen und deswegen für vernünftige Argumente nicht mehr empfänglich. Sie nahm sich daher mit ganzer Liebe ihres verschmähten Enkels an, dessen zuverlässige moralische Stütze sie fortan bildete. Ihrer liebevollen Fürsorge unversehens beraubt, fühlte sich Enrico nun am Ende seiner Kräfte. Vom Kummer gekrümmt, kehrte er in sein neues Zuhause zurück, um sich dort wie ein verachteter Paria heimlich seine Wunden zu lecken.