Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

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In den folgenden Tagen traute sich Enrico nur noch selten hinauf in die Wohnung. Er reduzierte seine Ernährung auf ein gerade noch erträgliches Mindestmaß und begnügte sich jetzt täglich mit einigen belegten Brötchen sowie diversen Beutelsuppen, die er, wie neuerdings auch seinen Kaffee, auf einer alten elektrischen Herdplatte in seinem Kellerverlies kochte. Die geleerten Spirituosenflaschen stapelten sich mittlerweile in einer Ecke, da er kaum noch Müll entsorgte, um seinen gefürchteten und verhaßten Nachbarn nicht über den Weg laufen zu müssen. Er konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie die nach seinem Eklat mit Gerda über ihn herziehen würden. Eines Abends wurde er selbst Zeuge eines derartigen Gesprächs, das der Frühpensionär Müller aus der zweiten Etage rechts mit dem schon recht betagten Fräulein Wittwer vom vierten Stockwerk links vor geöffneter Haustüre lautstark führte. Enrico, der sein Ohr an die Kellertür gelehnt hatte, konnte mühelos einem jeden Wort der Unterhaltung seiner gehässigen Nachbarn folgen, denen es anscheinend völlig egal war, ob der in seinem Kellerverlies Hockende Zeuge ihrer bösen Häme wurde. Es ging dabei um das angeblich gegen ihn laufende Gerichtsverfahren wegen Ladendiebstahls und dem mutmaßlichen neuen Verhältnis von Frau Walther, seiner Gattin, „der armen Frau, die in der letzten Zeit so vieles durchmachen mußte mit ihrem Mann, dem jämmerlichen Waschlappen.“

Im Grunde seines Herzens war Enrico höchst erfreut, daß Rolf so resolut die Initiative ergriffen hatte, um ihn von seinem Kartäuserdasein im Keller zu befreien. Lange Zeit hätte er ein solches Leben sicherlich nicht durchgehalten. So fieberte er aufs innigste dem Tag seiner Befreiung entgegen und wäre Rolf beinahe vor Dankbarkeit um den Hals gefallen, als dieser am Samstag früh an seine Kellerpforte pochte. Zum Glück waren seine wenigen persönlichen Sachen ganz schnell in dem geparkten Lieferwagen vor dem Haus verstaut und auch die Nachbarn ließen sich nicht blicken. So traf er bereits gegen 10 Uhr in der neuen Wohnung ein. Rolf übergab ihm feierlich die Schlüssel und führte ihn dann stolz durch die möblierten Räume der schmucken Kleinwohnung, die aus einem großen Wohnzimmer mit abgetrennter Kochnische, einem kleinen Schlafzimmer, sowie Bad und Korridor bestand, zusammen 40 Quadratmeter groß, zum Vorzugspreis von 310 Euro Warmmiete.
„Besser hättest du es wirklich nicht treffen können. Hier ist auch gleich der Mietvertrag, den du als Nachmieter nur noch zu unterschreiben brauchst. Ich kenn‘ ein wenig den Vermieter, einen sympathischen Wessi, der früher mal beim Gericht gearbeitet hat und mich hin und wieder bei gerichtlichen Streitigkeiten meine Firma betreffend berät.“
Rolf setzte sich auf einen der beiden bequemen Sessel im Wohnzimmer und holte zwei Flaschen Bier aus seiner Aktentasche, um noch in aller Gemütlichkeit mit seinem Freund auf den geglückten Umzug anzustoßen.
„Damit ich es nicht noch vergesse“, bemerkte Rolf schmunzelnd, nachdem er einen ersten großen Schluck aus der Flasche genommen hatte. „Ich hab‘ dir auch noch ein kleines Geschenk von deiner Großmutter mitgebracht. Die alte Dame läßt sich entschuldigen, aber es ging ihr in den letzten Tagen nicht besonders gut.“
„Was, tausend Euro?“, entfuhr es Enrico, als er den von Rolf präsentierten Scheck neugierig gemustert hatte. „Aber das ist doch viel zu viel für mich. Das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen. Ich werde nachher gleich zu ihr nach Hause fahren, um ihr persönlich dafür zu danken. Ich hätte sie eigentlich schon längst wieder einmal besuchen müssen, aber ich hatte in den letzten Tagen so viele andere Sachen in meinem Kopf.“
„Den Besuch bei Lieselotte kannst du fürs erste einmal verschieben, es sei denn, du willst auf der Intensivstation im Krankenhaus bei ihr vorbeischauen.“
„Was erzählst du mir da für'n Quatsch? Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein! Sagt mir denn überhaupt keiner mehr, was in der Familie passiert! Nun erzähl‘ mir doch endlich, was mit Oma los ist“, polterte Enrico ungeduldig los.
„Aber hat dir denn Gerda noch nichts erzählt?“, fragte Rolf in einem großes Erstaunen vortäuschenden Ton. „Es ist doch jetzt schon wieder beinahe drei Wochen her, daß deine Großmutter sich gleich nach ihrer Geburtstagsfeier so schwach gefühlt hatte. Schließlich mußte sie vor drei Tagen ins Krankenhaus gebracht werden. Was es genau ist, wissen die Ärzte noch nicht genau. Was Altersbedingtes mit dem Herzen wahrscheinlich, das wäre bei ihren fünfundachtzig Lenzen fürwahr kein Wunder.“