Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

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Während der folgenden Wochen war Enrico aufrichtig bestrebt, neuen Lebensmut zu fassen, seinen Lebenswandel allmählich wieder in normale Bahnen zu lenken und den arg beschädigten Hausfrieden mit Frau und Kindern wieder herzustellen. Zunächst einmal mußte er auf diskrete Weise seine empfangenen Beulen gesund pflegen. Dazu verschrieb er sich eine Baskenmütze, die er bereits in seinen Jugendjahren gelegentlich getragen hatte, und die er im Werkschrank seines Wohnkellers in der Nacht nach seinem Kaufhausmißgeschick entdeckt hatte.

Bald darauf besuchte er seinen guten alten Freund Rolf, dem er über ein Jahr lang gefließentlich aus dem Weg gegangen war. Dieser freute sich wirklich aufrichtig über den unerwarteten Besuch seines alten Stammtischkumpels. Der Zufall wollte es, daß Rolf gerade dringend einen Hilfsarbeiter zum Malern benötigte, da seine Firma soeben einen Großauftrag erhalten hatte. Das Jobcenter in der Bezirksstadt sollte nämlich von Grund auf saniert werden. Eine offizielle Einstellung wäre zwar leider nicht möglich, nicht einmal als Teilzeitjobber, doch da Enrico zur Zeit sowieso nur sinnlos zu Hause herumsäße, könnte er ihm wenigstens stundenweise unter der Hand aushelfen. Bemerken würde das ganz gewiß keiner, zumal seine „Aushilfe“, die dann fast zehn Stunden pro Arbeitstag betragen sollte, doch direkt bei der Behörde erfolgen sollte, die aller Wahrscheinlichkeit nach für die Finanzierung seines zukünftigen komplizierten Lebensabschnitts zuständig sein würde.
„Die werden sich doch nicht selber kontrollieren, und außerdem war doch meine Firma das Unternehmen mit dem besten Angebot“, beruhigte Rolf den etwas unsicher dreinschauenden Enrico und klopfte ihm dabei jovial auf die Schultern.
„Nur keine Panik, auf diesem Gebiet macht mir nämlich keiner so leicht etwas vor. Mitunter muß man bei denen eben zu recht ausgefuchsten Methoden greifen, um sich einen lukrativen Auftrag zu sichern. Hab' also Vertrauen, alter Kumpel, mir können die nicht so leicht etwas anhaben.“
Bei einem Gläschen Kognak wurde dann schnell noch das Finanzielle geregelt, ehe Enrico, nach langer Zeit wieder einmal ein Lächeln auf den Lippen, frohgemut nach Hause eilte.

Den sechswöchigen Ausfall an Arbeitslosengeld konnte er durch seine Schwarzarbeit, die er sogleich am folgenden Montag begann, erfolgreich überbrücken, und da auch kein gerichtlicher Bescheid wegen seines Ladendiebstahls im Briefkasten landete, fühlte er sich beinahe glücklich. Auch auf Alkoholika verzichtete er nun fast völlig, benötigte er doch das durch Schwarzarbeit verdiente Geld dringend, um die laufenden Ausgaben zu begleichen. Gerda und seine Kinder durften ja keinesfalls etwas von seinem Ausrutscher erfahren. Zudem fiel er jeden Abend todmüde in sein Bett, da er die schwere körperliche Arbeit einfach nicht mehr gewöhnt war. Für dumme Gedanken verblieb ihm deshalb gar keine Zeit.

Bereits seit zweieinhalb Wochen arbeitete er nun in Rolfs Firma. Der Job machte ihm mittlerweile großen Spaß, obwohl er es immer noch lieber gesehen hätte, wenn ihn Rolf offiziell eingestellt hätte. Aber was das anging, ließ sein alter Freund partout nicht mit sich reden. Auch die Bezahlung war nicht gerade das, was man sich unter einem anständigen Broterwerb hätte vorstellen können. Doch auch auf diesen Einwand hatte Rolf eine zufriedenstellende Antwort parat:
„Wenn es mir nur ums Geld ginge, dann könnte ich auch ein paar polnische Facharbeiter für zwei Euro die Stunde einstellen, mit denen wäre ich bestimmt schon in zwei Wochen mit dem ganzen Sanierungsauftrag fertig. Aber ich werd‘ mir doch die Hände nicht mit Polacken dreckig machen, wenn ich einem guten alten Freund wie dir aus der Patsche helfen kann. Demnächst kriegste doch auch wieder Stütze, dann stehste ja finanziell fast besser da wie ich, wo ich doch die ganze Verantwortung am Halse habe. Wenn ich‘s mir recht bedenke, würd‘ ich am liebsten mit dir tauschen, du Sozialschmarotzer.“
Die Schimpfbezeichnung „Sozialschmarotzer“ hatte Rolf selbstverständlich nicht ganz so ernsthaft gemeint, und mit dem demnächst wahrscheinlich zustande kommenden Doppelverdienst hatte er ja eigentlich auch recht. Und selbst dem Schleicher vom Amt mußte er genau genommen dankbar sein, da er ihn ja, wenn auch ziemlich unsanft, wieder zurück auf die rechte Bahn geschubst hatte. Die Leute faul zu Hause herumsitzen zu lassen, das kann sich nun mal eine marktorientierte Gesellschaft nicht leisten, da muß dann eben doch mitunter auch mal etwas härter zugepackt werden. Frohgemut beugte sich Enrico über eine noch entblößte Stelle im Putz, um die vor einer Woche neu verlegte Elektroinstallation vollständig zuzumörteln. Ein heiteres Liedchen aus dem „Musikantenstadtl“ auf den Lippen, tat er gerade seine letzten Spachtelstriche vor der wohlverdienten Mittagspause, als ihm jemand sachte auf den Rücken tippte.
„Einen Moment, bin gleich fertig“, rief Enrico, der Rolf in seinem Rücken wähnte. Er betrachtete nochmals fachmännisch seine soeben zu einem guten Ende gebrachte Arbeit und legte dann sorgsam seine Utensilien beiseite. Doch welch eine schockierende Überraschung erwartete ihn, als er sich schließlich umdrehte? Vor ihm stand, im feinen Nadelstreifenanzug und mit einer prallen Aktentasche unter dem Arm geklemmt kein anderer als sein persönlicher Jobberater Herr Schleicher, dem er noch vor wenigen Minuten gedanklich als seinen „sozialen Retter“ lobgepriesen hatte.
„Ja da schau her, der Herr Walther hat also anscheinend eine Arbeit gefunden. Da darf man ja wohl gratulieren, daß es so schnell geklappt hat. Und dabei hätten wir doch nächste Woche schon wieder einen Termin gehabt.“