Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

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Enricos Ausflug zurück ins Arbeitsleben war nur von kurzer Dauer gewesen. Jobvermittler Schleicher hatte es natürlich nicht bei seinen Glückwünschen für den neuen Job belassen, sondern sogleich ein Verfahren wegen Schwarzarbeit gegen ihn eingeleitet. Und wieder hatte sich das Arbeitsamt vergleichsweise kulant gegenüber Enrico gezeigt: eigentlich wäre mindestens eine dreimonatige Sperre aller Bezüge fällig gewesen, schrieb man ihm, in Anbetracht seiner schwierigen sozialen Lage wolle man jedoch noch einmal letztmalig Gnade vor Recht ergehen lassen. Das ihm noch für zweieinhalb Monate zustehende Arbeitslosengeld werde ihm zwar gestrichen, doch dürfe er sich im Anschluß daran auf dem dann für ihn und seine Familie zuständigen neuen Jobcenter in der Bezirksstadt als Hartz‑IV-Empfänger anmelden. Anscheinend hatte bei dieser ungewöhnlich noblen Entscheidung wieder einmal sein guter Freund Rolf die Hände mit im Spiel gehabt, dem intime Beziehungen bis hinauf in die Chefetagen diverser Ämter nachgesagt wurden. Auch hatte es der clevere Unternehmer zu verhindern gewußt, daß der gute Ruf seiner Firma wegen illegaler Beschäftigung von Schwarzarbeitern in der Öffentlichkeit in den Dreck gezogen wurde. Schließlich saß er ja ehrenamtlich für die FDP im Stadtrat.

Für den finanziellen Verlust, den Enrico erleiden mußte, konnte Rolf natürlich nicht aufkommen. Zwar wasche eine Hand die andere, wie es so schön heiße, aber für Unglücksfälle dieser Art sei nun mal ein jeder selbst für sich verantwortlich in unserer marktliberal organisierten Gesellschaft. Ja, Rolf hatte eben für jedes Problem einen guten Spruch auf Lager. Und wie so häufig ließ er seinen guten alten Freund auch diesmal nicht vollkommen im Stich. Er übernahm es, mit Ehefrau Gerda ein „ernstes Wörtchen über die aktuelle Weltlage“ zu sprechen.
„Schließlich bist du ja nicht alleine für das Wohl deiner Familie verantwortlich. Deine Gerda kann da mal ruhig etwas mittun und muß in diesem schwierigen Falle auf ihre altmodischen Empfindlichkeiten verzichten.“

Wie es Rolf letztendlich fertigbrachte, Gerda dazu zu bewegen, zum ersten Mal in ihrem Leben den demütigenden Gang zum Jobcenter anzutreten, um das laufende Einkommen für die Familie zu retten, das sollte Enrico nie erfahren. Rolf ließ es sich auch nicht nehmen, die Gattin seines guten alten Freundes in seinem neu erworbenen schicken Firmenwagen – „So 'ne Karre kann ich mir bei der schwierigen Wirtschaftslage eigentlich gar nicht leisten, aber zum Glück kann ich ja die anfallenden Kosten beim Finanzamt wieder absetzen, sonst ginge ich ja pleite, verstehste!“ – zum Amt zu fahren. Dort war es ihm durch seine guten Beziehungen gelungen, einen dringenden persönlichen Termin für die Neueinsteigerin in Sachen Hartz‑IV-Geld zu organisieren. Gerda brauchte sich also dieses Mal nicht in die lange Schlange vor den Toren des neu gestrichenen Gemäuers einzureihen, sondern wurde umgehend von einer freundlichen Dame empfangen. Diese versprach ihr eine erste Abschlagzahlung bereits für den nächsten Monatsanfang, natürlich unter der Voraussetzung, daß sie in den nächsten Tagen den ausgefüllten Fragebogen zurück an die Zulassungsstelle des Amtes senden würde.
„Sie, Ihr Gatte und Ihre beiden Kinder bilden ab sofort eine Bedarfsgemeinschaft. Dank der neuen Hartz‑IV-Gesetze brauchen Sie für die finanzielle Absicherung ihres Grundbedarfs nicht mehr aufs Sozialamt zu rennen, denn dafür sorgen wir jetzt. Das Ihnen zustehende Geld nebst Mietzuschuß wird von nun an in voller Summe auf ihr Konto überwiesen. Ihr Mann braucht sich also fortan auch um diese leidige Sache nicht mehr zu kümmern. Nur wegen eines neuen Jobs sollte er sich wirklich endlich einmal dringend umtun, da sie ja selber wegen der Kinder dem Arbeitsmarkt nur sehr beschränkt zur Verfügung stehen. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Suche nach Arbeit.“
Mit einem teilnahmsvollen Lächeln stand die Beamte von ihrem Schreibtisch auf, um zunächst Gerda und danach auch Rolf mit einem Optimismus heuchelnden Händedruck zu verabschieden.