Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

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Nein, einen Bettler würde diese rücksichtslose Gesellschaft ganz gewiß nicht aus ihm machen. Das schwor er sich heute bereits zum wiederholten Male, als er sich gegen Abend im Bus zu Oma Lieselotte befand.

Er hatte es heute einfach nicht länger zu Hause aushalten können. Schon der fragende Blick Gerdas bei seiner Rückkehr vom Amt und ihre scheinheilige Bemerkung, „Heute ging es ja wieder mal besonders schnell“, hatten ihn in Rage gebracht. Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, hatte er sich in den Keller zurückgezogen, wo er sich schon vor Jahren eine kleine Werkstatt eingerichtet hatte. Doch auch hier konnte er keine Ruhe finden. Anstatt an irgendwelchem Spielzeug für die Kinder zu basteln, saß er düster brütend an der Werkbank, den Kopf grübelnd auf seine Hände gestützt. In dieser Haltung verharrend, hatte er dann verzweifelt versucht, neue Methoden ausfindig zu machen, wie er noch mehr Einsparungen bei den Ausgaben für das alltägliche Leben vornehmen könnte, ohne den Kindern und Gerda noch mehr weh tun zu müssen. Auf gegenseitige Weihnachtsgeschenke hatten die beiden Ehegatten nun schon zum zweiten Mal hintereinander verzichtet. Es reichte ja vollkommen aus, wenn die Kinder etwas Anständiges bekamen, damit sie davon in der Schule erzählen konnten. Und für Raketen und Feuerwerksartikel zur Silvesternacht reichte ihr Geld schon lange nicht mehr. Es gab ja auch wirklich keinen Anlaß mehr zu Neujahrsfreudentänzen wie zu Wendezeiten. Zudem brachte der Monat Januar erfahrungsgemäß immer besonders hohe Ausgaben. Nach langem Überlegen kam er zu der ernüchternden Einsicht, daß er härtere Sparmaßnahmen nur noch sich selbst aufbürden konnte, denn seiner Frau und den Kindern waren weitere Reduzierungen einfach nicht mehr zuzumuten. So beschloß er, heimlich täglich auf eine Mahlzeit zu verzichten und sich mit zwei Brotzeiten zu begnügen. Übergewicht und Fettleibigkeit gehörten heutzutage sowieso zu den schlimmsten gesundheitlichen Risiken, wie er immer wieder aus dem Fernsehen und beim Lesen der Bild-Zeitung erfahren konnte. Es kam ja nur darauf an, die nötigen Tagesrationen an Kalorien oder Joule, wie die winzigen Dinger seit einiger Zeit hießen, zu sich zu nehmen. In der Dritten Welt gab es jede Menge Menschen, die sich nur alle fünf Tage eine richtige Mahlzeit leisten konnten, während es in dieser dekadenten Gesellschaft von Fressmäulern nur so wimmelte, die es auf fünf und mehr Mahlzeiten pro Tag brachten, ohne daß ihnen der vollgestopfte Bauch platzte. Da würde er mit seiner neuen Essensrate ja geradezu ideal in der Mitte liegen. Und er hätte zudem wieder einen ordentlichen Grund, fett- und kalorienreich zu essen: Eisbein mit Kartoffelsalat zu Mittag zum Beispiel, oder dick geschmierte Speckfettschnitten mit Grieben zum Abend. Sein heimlicher Groll auf den ganzen Wessi-Biomüll stieg mit einem Male wieder in ihm hoch und erweckte seine erschöpften Lebensgeister. Diese Bio-Mafiosi und Light-Scheiß-Haie sollten keine müde Mark mehr an ihm und seiner Familie verdienen. Das mußte auch Gerda endlich einsehen, die es immer noch nicht lassen konnte, einmal wöchentlich mit ihrer Freundin Heidi in den Bioladen zu fahren, trotz aller seiner Drohungen, nur noch BSE-verseuchtes, fettiges Rindfleisch zu sich zu nehmen. Mit Heidi und den Bio-Piraten endlich ein paar Schuldige an seinem Dilemma ausfindig gemacht zu haben, hob seine miese Stimmung ein wenig. Kurzerhand beschloß er, da es draußen inzwischen aufgehört hatte zu regnen, Oma Lieselotte einen Besuch abzustatten.

Ohne Gerda Bescheid zu sagen, setzte er sich am späten Nachmittag in den Bus, um zu dem kleinen Häuschen im Nachbardorf zu fahren, in dem seine Großmutter wohnte. Zu ihr hatte seine ganze Familie ein besonders herzliches Verhältnis. Die Sommerwochenenden verbrachte er gerne gemeinsam mit Frau und Kindern beim Grillen in ihrem von Bäumen und Sträuchern wie durch eine Mauer vom tristen Alltag abgeschotteten Garten hinter dem Haus. Seine Eltern, nahe und entfernte Verwandte sowie Freunde aus Omas weitläufigem Freundeskreis gesellten sich häufig hinzu, um gut gelaunt im Grünen zusammenzusitzen. Oma buk dann jedes Mal einen riesengroßen Kuchen und nach dem Kaffeeplausch gab es immer noch etwas Herzhaftes zu essen sowie Bier und Wein für die erwachsenen Gäste. Auch den Kindern machte es jedes Mal großen Spaß, im Garten Versteck zu spielen oder in der Umgebung herumzutollen. Doch jetzt, im feuchtkalten Februar, lag der Garten noch völlig vom Grün entblößt da. Traurig und krank erschien er ihm – ungeschützt vor den Blicken der neugierigen Nachbarn.

Oma Lieselotte war mit ihren vierundachtzig Lenzen noch immer eine ausgesprochen rüstige alte Dame, deren optimistische Lebensweisheit selbst den niedergedrücktesten Menschen wieder Trost und Hoffnung einzuflößen vermochte. Auch Enrico fühlte sich gleich viel besser, als er von ihr an der Tür freundlich empfangen, in die Arme genommen und in ihr gemütliches Wohnzimmer gezogen wurde, das mit seinen vielen Blumen, Kakteen und anderem Grünzeug einem kleinen Wintergarten glich.
„Wie geht’s denn unserem lieben Rico, und was machen Gerda und die Kleinen? Warum hast du sie zu Hause gelassen? Ich freue mich doch immer so, wenn sie mich besuchen kommen“, fragte Oma Lieselotte, als sie Enrico in die gute Stube führte.
„Ihr seid doch hoffentlich alle noch gesund und munter bei diesem feuchten Sauwetter, das nun schon seit einer Woche herrscht? Und mit René und Sandra klappt es doch hoffentlich auch noch in der Schule? Wegen mir braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Doch komm, mein Junge, setz dich erst mal, du siehst ja wirklich mächtig abgespannt aus. Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee, oder willst du vielleicht lieber eine Flasche Bier aus dem Keller haben?“
Enrico nickte verlegen. Die besorgten Fragen der Alten waren sicherlich ehrlich gemeint und entsprangen einem mitfühlenden Herzen, doch ihm war zur Zeit gar nicht danach zumute, über seine ihn quälenden Sorgen Auskunft zu erteilen, selbst nicht gegenüber Oma Lieselotte, wenigstens nicht gleich zu Beginn seines Besuches.

Während seine Großmutter nach unten ging, um ein Bier für ihren lieben Enkel heraufzuholen, bei der Gelegenheit auch gleich noch die Kaninchen im Stall fütternd, ließ sich Enrico auf das weiche Kanapee im Wohnzimmer fallen. Die liebevoll eingerichtete Stube strahlte eine Ruhe aus, die er schon als Kind voller Dankbarkeit genossen hatte. Bereits als Schuljunge war er häufig vorbeigekommen, wenn ihm irgendwelche Hausaufgaben Sorgen bereitet hatten. Konnte ihm Oma damals auch nicht beim Lösen der komplizierten mathematischen Rechnungen behilflich sein, so brachte sie es doch mit Leichtigkeit fertig, mit ihren mitunter nur wenig respektvollen aber niemals böse gemeinten witzigen Andeutungen über einige stadtbekannte Lehrer alle seine Ängste zu verscheuchen. Später kam er auch öfters nach der Arbeit vorbei, um sich auf ihrem Sofa für ein Stündchen niederzulegen, denn zu Hause fand er dazu niemals Ruhe. Nach ausgestandener „Gartenarbeit“ servierte ihm dann Großmutter Kaffee und Kuchen, ehe Gerda mit den Kindern vorbeikam, um ihn von seiner „Fron“ zu erlösen.

Heute konnte er aber beim besten Willen keine Ruhe finden. Zu viele Sorgen bereitende Dinge gingen ihm durch den Kopf, für die diesmal sicherlich auch Oma Lieselotte keine Lösung parat haben würde. Wie von ungefähr fiel sein grübelnder Blick auf die Tischschublade, in der die Alte neben Knöpfen, Nägeln, Reißzwecken, Zwirn, Hämmern, Zangen, alten Münzen und verschiedenen Andenken an ihren schon vor langer Zeit verstorbenen Mann auch ihre dicke Brieftasche aufbewahrte. Darin stapelte sie ihr Rentengeld, das sie für gewöhnlich jeden Monat erst einmal in seiner vollen Höhe von ihrem Konto abhob, um zu sehen, ob auch alles noch „mit rechten Dingen“ zuginge. Denn seit der letzten Währungsumstellung, bei der sie fast die Hälfte ihrer Ersparnisse verloren hatte, war das Vertrauen der alten Dame in die soziale Marktwirtschaft im allgemeinen sowie auf die Geld- und Kreditinstitute im besonderen beträchtlich gesunken. So sorgsam sie darauf bedacht war, ihr Geld vor den „Bankhaien“ in Sicherheit zu bringen, so sorglos ging sie damit um, lag es erst einmal daheim in ihrer Schublade. Da sie nur recht wenig für ihr eigenes Leben brauchte, verausgabte sie einen großen Teil ihrer Rente für Geschenke im Familienkreis sowie Spenden für Wohlfahrtsverbände und kirchliche Hilfsorganisationen, aber auch für recht zwielichtige Vereine, die emsig Geldspenden für die Verwahrung verwahrloster Hunde, Jogakurse für tschetschenische Waisenkinder oder Weihnachtsgeschenke für die Pinguine auf Grönland sammelten. Nie kam sie auf den Gedanken, ihr Schubladengeld nachzuzählen. Trotzdem verblieb meistens ein Rest, den dann er oder jemand anderes aus der zahlreichen Verwandtschaft auf ihr Sparkonto bei der Dresdner Bank bringen mußte. Die genossen als „hauptstädtisch-sächsisches Unternehmen“ noch am ehesten ihr Vertrauen, verlautbarte sie.

Enrico öffnete zerstreut die Schublade, in der er schon früher als kleiner Junge so gerne gestöbert hatte, um goldene Knöpfe, farbige Nähnadeln und alte Abzeichen zu betrachten und sie dann sorgfältig zu sortieren. Sein Blick fiel auf das abgeschabte rote Leder der Brieftasche, aus der zerknüllte Geldscheine hervorlugten. Ein dunkler Gedanke schoß ihm plötzlich durch den Kopf. Ohne lange zu überlegen und ohne die Gesamtsumme der Geldscheine nachzuzählen, die die Börse enthielt, nahm er hastig drei Fünfzig-Euro-Scheine und mehrere kleinere Scheine heraus und steckte sie eilig in seine Hosentasche. Das würde sicher genügen, um die anstehende Miete begleichen zu können. Wenn er wieder bei Kasse sein würde, könnte er das Geld ja einfach wieder zurücklegen. Oma Lieselotte würde sicherlich nichts bemerken, versuchte er sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, das sich zur Hektik steigerte, als er die Schritte der zurückkehrenden Großmutter auf der Kellertreppe hörte.

Aus seinem Lieblingsglas, einer goldrandverzierten Tulpe seiner Stammbrauerei, wurde ihm nun Bier eingeschenkt. Doch ein vertrautes Gespräch wollte heute einfach nicht zustande kommen, obwohl sich die alte Frau wirklich redlich darum bemühte. Enrico waren nur wenige nichtssagende Worte auf ihre besorgten Fragen zu entlocken. Schon eine halbe Stunde später stand er auf, um nach Hause zurückzukehren. Der Tag heute wäre sehr stressig gewesen und die Familie warte, entschuldigte er sich verlegen. Oma Lieselotte drängte ihn diesmal nicht, noch für ein Weilchen zu bleiben. Auch sie schien bemerkt zu haben, daß irgendetwas mit ihrem Enkel heute nicht stimmte.
„Du weißt, daß ihr immer auf mich zählen könnt“, sagte sie ihm noch zärtlich zum Abschied. „Am nächsten Mittwoch komme ich zu Sandras Geburtstag bei euch vorbei, ich habe für sie schon eine kleine Überraschung geplant.“
Dann umarmte sie ihn herzlich, dabei gleichzeitig mit der linken Hand nach hinten in die Schublade langend und aus ihrer Geldbörse einen zerknüllten Schein herausholend. Diesen ließ sie, ohne ihn vorher zu betrachten, sogleich in Enricos Jackentasche gleiten. Sie begleitete ihn noch bis zur Tür, von wo aus sie ihm voller Sorge nachschaute, bis er um die Ecke herum in der Dunkelheit verschwunden war. Auf dem Weg zum Bus griff Enrico noch einmal in seine Tasche. Seine Großmutter hatte ihm zum Abschied fünfzig Euro zugesteckt. Am liebsten hätte er das Geld genommen, um es über den Zaun zurück in ihren Garten zu werfen, doch dann steckte er es resigniert ein und eilte weiter durch den trüben Abend, der seine Schamröte diskret verhüllte.