Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
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Zu Sandras Geburtstag am folgenden Mittwoch hatte man viele Gäste eingeladen. Neben Oma Lieselotte und Enricos Eltern waren auch seine Schwiegereltern und zwei seiner Schwestern mit ihren Ehegatten und Kindern erschienen. Die kleine Neubauwohnung platzte fast aus den Nähten, aber zum Glück herrschte den Nachmittag über draußen schon sonniges Vorfrühlingswetter. Während die Kinder in den kleinen Park hinter dem Wohnblock spielen gingen, wagte ein Teil der Erwachsenenschar einen kurzen Ausflug in die allmählich erwachende Natur. Enrico blieb trotz der Bitten seiner Frau zu Hause. Er leide unter Kopfschmerzen, ließ er die werte Verwandtschaft wissen und zog sich dann ins Schlafzimmer zurück, wo er sich mit einer Flasche Wein zu betäuben suchte. Seit beinahe einer Woche fühlte er sich krank, genauer gesagt, seit seinem letzten Besuch bei der Großmutter. Das entwendete Geld brannte ihm auf der Seele, doch hatte er bis jetzt noch keine Möglichkeit gefunden, seine Schuld zu bereinigen. Ja, noch schlimmer, er hatte mittlerweile bereits alle Hoffnung aufgegeben, ihr das Geld überhaupt in absehbarer Zeit zurückgeben zu können. Für die Begleichung der Mietschulden, ein kleines Geschenk zu Sandras zwölftem Geburtstag und den Kauf einer zugegebenermaßen etwas erhöhten Anzahl von Bier- und Rotweinflaschen, die er in seiner Kellerwerkstatt vorsorglich vor den Blicken seiner Frau und den Kindern versteckt hielt, war das gesamte geschenkte und „entliehene“ Geld von Oma erstaunlich schnell zwischen seinen Fingern zerronnen. Zum Glück war in wenigen Tagen sein Arbeitslosengeld fällig, sonst hätte er wirklich nicht mehr weiter gewußt.
Für Sandra wurde es trotz allem eine recht schöne Geburtstagsfeier. Gerda hatte ihr vom letzten Ersparten eine CD von einer Teenie-Kultband gekauft, auf die das Mädchen, wie alle ihre Freundinnen in der Schule, seit kurzem total abfuhr. Zum Glück gab es im Familienkreis auch Verwandte, die noch Arbeit hatten oder die als Rentner ein relativ sorgloses Leben führen konnten. Diese hatten sich nicht lumpen lassen und Sandra großzügig beschenkt, wußten sie doch alle um die finanziellen Probleme der Familie.
Nur Oma Lieselotte zeigte sich diesmal merklich zurückhaltender als gewöhnlich.
Als man sie fragte, ob sie sich nicht wohl fühle, verneinte sie lachend, gab dann aber, nachdem die Kinder wieder nach draußen zum Spielen gegangen waren, eine ausführliche Erklärung für ihr ungewöhnliches Verhalten, da sie die besorgten Blicke der Anwesenden nicht länger ertragen konnte.
„Stellt euch einmal vor“, begann sie endlich zu erzählen, „Da wollte ich doch heute meiner lieben Enkelin zu der Bluse und dem Pulli noch eine größere Summe Geldes dazulegen.
Ihr wißt ja, die jungen Leute heutzutage brauchen immer ein bißchen Bargeld.
Heute früh schaue ich also in meine Brieftasche, in der ich mir noch mindestens zweihundert Euro für Sandras Geburtstag zurückgelegt hatte.
Zu meinem Schreck mußte ich aber feststellen, daß keine fünfzig Euro mehr übrig waren.
Jemand mußte also Geld aus meinem Portemonnaie genommen haben, daran gab es keinen Zweifel.“
Enrico war während Großmutters Schilderung immer unruhiger geworden, was jedoch niemand bemerkte, da alle gespannt auf den Ausgang ihrer Geschichte warteten.
„Ich brauchte nicht lange, bis ich begriffen hatte, was da passiert war“, fuhr die Alte listig lächelnd fort, während Enricos Unruhe sich zu einem nervösen Klopfen auf dem Tisch steigerte.
„Vor einer Woche war bei mir doch der Klempner wegen der verstopften Badewanne.
Ein junger adretter Bursche kam vorbei, dem ich, nachdem ich ihn bereits bezahlt hatte, noch eine Tasse Kaffee anbot.
Er muß wohl die Zeit, während der ich in der Küche war, ausgenutzt haben, um in meine Brieftasche zu greifen.“
Die gesamte Familienrunde, Enrico mit einbegriffen, war sich sofort einig, daß dieser junge Klempnerlehrling der Dieb gewesen sein mußte. Schwager Herbert erbot sich sofort, die betreffende Werkstatt anzurufen, um den zuständigen Chef über die kriminellen Machenschaften seiner Angestellten zu informieren und das gestohlene Geld zurückzufordern.
Das lehnte Oma Lieselotte aber entschieden ab:
„Ich bin mir zwar sicher, daß es genauso passiert sein muß.
Aber trotzdem lasse ich es nicht zu, daß wegen mir ein junger Mann seine Arbeit verliert.
Wenn ich es recht bedenke, dann wird er wohl seine guten Gründe gehabt haben, das Geld zu nehmen. Das Leben wird doch für die jungen Leute immer teurer.
Denkt nur an die ständig steigenden Mieten und die Spritpreise.
Und außerdem, mir alten Schachtel geschah es doch ganz recht! Ich hätte ja besser auf mein Geld aufpassen können! Und für Sandra kann ich ja morgen immer noch etwas Geld abheben gehen.“
Geduldig ließ die alte Dame nun die Empörungsstürme der Verwandtschaft über sich ergehen.
Mitleid sei in einem solchen Falle völlig fehl am Platze und ermutige doch bloß die Ganoven, es nur noch schlimmer mit den anständig gebliebenen Bürgern zu treiben.
„Und seitdem unser Staat die Grenzen sperrangelweit für das Ausländerpack geöffnet hat, ist die Situation noch bedrohlicher für uns Deutsche geworden“, polterte schließlich Herbert verdrossen.
„Bei Hitler hätte es so was nicht gegeben, der wußte genau, wie man mit solchen Juden umgehen muß!“
Diese ungehörige Äußerung, über die fast die Hälfte der Gäste bemerkbar die Nasen rümpfte, rief sofort Herberts Schwager und Lieblingsfeind Willy aufs Parkett: „Hör doch auf Herbert, das hat doch nun wirklich nichts mit der Sache zu tun!
Und verschone uns bitte auch mit deinen dummen Sprüchen, die keiner hier am Tisch mehr hören will!“
„Dumme Sprüche!? Das muß mir gerade so einer wie du sagen, einer, der unter Honi Parteimitglied war und unsereins tagtäglich schikaniert hat!“
„Wer hat denn unseren Arbeiter- und Bauernstaat zugrunde gerichtet? Das waren doch in der Hauptsache solche Großmäuler wie du, die jedes Jahr ihre drei Monate krank gefeiert haben, und dann, als es darauf ankam, zur Stange zu halten, zum Klassenfeind übergelaufen sind.
Für läppische hundert D‑Mark!“, konterte schlagfertig Willy, sich hierbei um ein betont akzentfreies Hochdeutsch bemühend.
„Du warst doch auch mit deiner Familie und dem Ausweis deiner verstorbenen Mutter drüben in Hof zum Absahnen, du falscher Fuffziger!“, bellte sofort Herbert zurück, mit der Faust gewuchtig auf den Tisch schlagend, so daß sein Bierglas überschwappte.
Die gesamte Verwandtschaft schwieg benommen.
Nur Oma Lieselotte, an deren harten Schicksalsschlag bereits niemand mehr dachte, schuf sich jetzt auf eindrucksvolle Weise Gehör.
„Wenn dieser dumme Streit nicht sofort aufhört, dann könnt ihr ohne mich hier weiter feiern.
Habt ihr denn keinen Funken Anstand mehr?! Wir sind doch zusammen gekommen, um den Geburtstag von Sandra zu feiern, und nicht, um uns über lange zurückliegende Dinge zu streiten, die sowieso nicht mehr zu ändern sind.“
Herbert und Willy murmelten noch ein paar unverständliche Worte in ihren Bart, dann nippten sie an ihrem Bier, ehe sie der Forderung Gerdas nachkamen, sich wieder zu versöhnen.
Verlegen grinsend, prosteten sie sich endlich zu, um sich noch einen gehörigen Schluck Gerstensaft zu genehmigen, dem alle beide besonders gut gesonnen waren.
Das Tischgespräch verlief nun wieder in ruhigeren Bahnen und behandelte fortan so wichtige Themen wie das für die Jahreszeit viel zu warme Wetter, die neue Familien-Saga, die seit kurzem im Zweiten Fernsehprogramm ausgestrahlt wurde, die aktuelle Lebensgefährtin des Bürgermeisters und den noch nicht bestätigten Verdacht auf Vogelgrippe bei einer Kuh in einer Stallung in einem benachbarten Dörfchen. Schon bald nach dem Abendessen herrschte allgemeine Aufbruchstimmung. Die einen brachen auf, weil sie am nächsten Morgen schon sehr zeitig zur Arbeit gehen mußten, die anderen mußten ihnen zwangsläufig folgen, da sie sich nicht nachsagen lassen wollten, sie profitierten als Arbeitslose vom Fleiß der ersteren. Aus diesem Grunde verschwiegen auch die zur zweiten Sparte gehörenden Schwäger Herbert und Willy wohlweislich, daß sie noch vorhatten, an diesem Abend zur NPD-Ortsgruppensitzung bzw. in den Kegelklub zu gehen. Oma Lieselotte und die anderen anwesenden Pensionäre schließlich sehnten sich einfach nach etwas Ruhe nach diesem aufregenden Familiennachmittag.
Eine große Stille herrschte im Wohnzimmer, nachdem auch der letzte Besucher endlich gegangen war und die Kinder sich erschöpft in ihr Zimmer zurückgezogen hatten.
Enrico holte seine bereits zu drei Vierteln geleerte Weinflasche aus dem Schlafzimmer, um sie schlückchenweise zur Neige zu trinken, mißmutig am unaufgeräumten Tisch hockend.
Gerda, die inzwischen mit dem Aufwasch begonnen hatte, beobachtete ihn mit finsterer Miene.
„Mit dir wird es auch von Tag zu Tag schlimmer! Jetzt säufst du wohl auch schon heimlich? Eine Schande ist das für die Familie!“
Ohne seine Frau auch nur eines Blickes zu würdigen, erduldete er ihr Keifen und wartete geduldig, bis sie sich ausgetobt und ins Schlafzimmer zurückgezogen hatte.
Endlich allein, fühlte er sich hundeelend.
Er ließ seinen Kopf auf den Tisch sinken und begann leise zu schluchzen, so leise, daß ihn seine Frau im Nebenraum nicht hören konnte.
Nach geraumer Zeit stand er auf und schlich sich in den Keller, wo er noch Getränkevorräte gehortet hatte.
Erst gegen Morgen kehrte er wankend zurück und legte sich auf die Wohnzimmercouch schlafen, vorher noch behutsam das Fenster öffnend.