Stefan 'Sterni' Mösch
Enrico der Verlierer
Eine Erzgebirgstragödie
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Ganz langsam schlich Enrico Walther die Treppen des erst vor wenigen Jahren neu errichteten städtischen Arbeitsamtes hinunter. Er fühlte sich noch immer wie betäubt nach dem zermürbenden Gespräch mit Herrn Schleicher, seinem neuen persönlichen Jobvermittler, der ihm durch das Amt kürzlich zugeteilt worden war. Fast schon zwei Jahre lang, ging es ihm plötzlich durch den Kopf, war er nun schon ohne Arbeit. Seit jenem heißen Sommer, damals, als er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern braungebrannt aus dem Urlaub in Tunesien nach Hause zurückgekehrt war. Noch beim Kofferauspacken hatte er neugierig den Brief geöffnet, der ihm während seiner Abwesenheit vom ersten Geschäftsführer seiner Baufirma zugesandt worden war und in dem ihm mitgeteilt wurde, daß ihm bereits zum Ende des folgenden Monats gekündigt werden müsse, da man sich leider wegen der aktuellen schwierigen Auftragslage gezwungen sehe, den Personalbestand der Gruber & Lindig GmbH. „drastisch auszudünnen“. Man wünsche ihm trotz allem viel Erfolg in seinem zukünftigen Berufsleben, hatte es da noch ganz am Ende des kurzen, kalt formulierten, computer-ausgefertigten Schreibens geheißen. Er würde ja als tüchtiger Zimmermann ganz sicher schon in Bälde einen neuen Job finden.
Das hatte er zu Anfang ebenfalls geglaubt. Wer wirklich eine Arbeit sucht, der findet auch eine – davon waren er und die meisten seiner Arbeitskollegen damals noch felsenfest überzeugt gewesen. Einige von ihnen hatte er später auf dem Arbeitsamt wiedergetroffen, nachdem die Firma gegen Jahresende endgültig Insolvenz angemeldet hatte und nachdem sich die beiden Geschäftsführer Franz Gruber und Frieder Lindig eiligst nach dem Westen aus dem Staub gemacht hatten – der eine zurück, der andere davon und obendrein Frau und Kind im Stich lassend – und beide ohne im mindesten daran zu denken, die noch reichlich ausstehenden Löhne an ihre so plötzlich auf die Straße gesetzten Arbeiter auszuzahlen. Franz Gruber lebe nun wieder in Oberbayern, wo er über reiche Besitztümer verfüge, wie es gerüchteküchenweise verlautete, und von wo aus er, der gewiegte Geschäftsmann, schon wieder fleißig Geschäfte im gesamten Lande tätige. Über den Verbleib Frieder Lindigs hörte man dagegen vorerst nichts, denn der war aus leicht verständlichen Gründen für eine Weile völlig abgetaucht.
Wie schnell es doch in den letzten Jahren mit ihm und seiner Familie wirtschaftlich bergab gegangen war – adieu süßer Traum vom kleines Eigenheim am Waldesrand – durchfuhr es Enrico plötzlich. Er war gerade durch die sich automatisch öffnende Tür in die feuchte Kälte eines düsteren Februar-Vormittags zurückgekehrt und fühlte sich auf einmal mutterseelenallein und von der Gesellschaft im Stich gelassen, mehr denn je von trüben Zukunftsängsten gequält. Der Wind zerwühlte ihm das bereits schütter werdende Haar und wehte ihm nasse Schneeflocken ins Gesicht, die dort unversehens hinwegschmolzen, so schnell wie seine alten Sehnsüchte nach einem erfüllten glücklichen Familienleben ohne finanzielle Sorgen.
Zum Glück war es nicht allzu weit bis zur Straßenbahn, die er wieder nutzen mußte, nachdem er seinen treuen alten Audi im letzten Herbst nicht mehr durch den TÜV bekommen hatte. Doch noch vor der Haltestelle bog er links ab, um sich am Kiosk eine Bockwurst und ein Bier zu kaufen, denn er hatte Angst, allzu früh heimkehren zu müssen, in ein Heim, in dem er sich schon lange nicht mehr heimisch fühlte. In letzter Zeit war es nämlich immer häufiger zwischen ihm und seiner Frau Gerda zu Streitigkeiten gekommen, kein Wunder, da das Geld, was er vom Amt bekam, schon lange nicht mehr dazu ausreichte, um sich das gemeinsame Leben noch ein wenig lebenswert zu gestalten.
Trotzdem es noch nicht einmal Mittag war, stand eine ziemlich große Gruppe angetrunkener Männer an den mit leeren und halbvollen Bierflaschen verstellten verschmutzten Tischen – die meisten bereits im mittleren Alter, und alle wie er ohne Arbeit. Dichter Zigarettenqualm erfüllte den kleinen dunklen Schankraum, angeschwängert durch einen penetranten Gestank nach schalem Bier. Die meisten der herumlungernden Männer, zu denen sich auch einige Frauen mit aufgedunsenen Gesichtern gesellt hatten, gehörten wohl schon lange zu den gesellschaftlich ausgegrenzten, überflüssigen Individuen, zum nicht mehr vermittelbaren Prekariat, wie es neuerdings so schön im Fachjargon hieß. Gewiß hatten sie schon längst die Suche nach einem Job aufgegeben und versuchten nun ihre Hoffnungslosigkeit im Alkohol zu ertränken. Enrico suchte sich einen kleinen freien Tisch etwas abseits in einer schummrigen Ecke. So wie die da drüben wollte und durfte er niemals werden! Schließlich hatte er doch in den drei zurückliegenden Jahren alles nur Menschenmögliche versucht, um in der näheren und weiteren Umgebung seiner Heimatstadt eine neue Anstellung zu finden: er hatte eine berufliche Weiterbildung mit ausgezeichneten Ergebnissen absolviert, zusätzlich noch einen Computerlehrgang besucht, hatte unzählige Bewerbungsbriefe auf seiner alten Schreibmaschine getippt und bei allen möglichen Baufirmen Klingeln geputzt – und trotzdem waren alle seine Mühen für die Katz' gewesen, mußte er sich nun selbst zerknirscht eingestehen. Die da drüben, die mochten sich wohl keine solche Sorgen mehr um ihre Zukunft machen. Die waren eben schon immer die geborenen Versager gewesen, ganz im Gegenteil zu ihm, der hier doch eigentlich gar nicht hin gehörte.
Es tat ihm wirklich leid, daß er Gerda erst vor wenigen Tagen so böse angefahren und ihr vorgeworfen hatte, die ganzen Probleme nur auf ihn abzuwälzen. Sie hatte ihm darauf wütend erwidert, das läge doch nur daran, daß er ein solch erbärmlicher Versager sei, sein Freund Rolf hätte es ja schließlich sogar zu einer eigenen kleinen Firma gebracht. Es ärgerte ihn ungemein, daß immer wieder dann sein alter Freund Rolf ins Spiel gebracht wurde, wenn er angeblich in irgendeiner Sache versagt hatte. Dabei hatte er Rolf im letzten halben Jahr höchstens zweimal im Sportlerheim getroffen, ihrer alten Stammkneipe, in der sie früher an den Wochenenden Skat um die Viertel gespielt hatten. Seitdem er arbeitslos geworden war, ging Enrico kaum noch aus, ganz einfach weil er Angst davor hatte, beim Rundengeben nicht mehr mithalten zu können, da ihm das nötige Geld dazu fehlte. Da verzichtete man nun schon auf die wenigen Annehmlichkeiten, die man sich früher noch geleistet hatte, nur um für die Familie wenigstens ein Minimum an Lebensqualität zu wahren – und als Dank dafür bekam man andauernd nur böse Vorwürfe zu hören: man sei ein Versager oder gar noch etwas schlimmeres. Kein Wunder, daß ihm die Nerven durchgegangen waren und er, die Tür wütend hinter sich zuschlagend, seiner Frau noch zugebrüllt hatte, wenn sie Lust habe, könne sie ja zu Rolf ziehen, dem würde es sicherlich mächtig viel Spaß bereiten, sich um eine arbeitsscheue Frau und zwei verwöhnte Kinder kümmern zu dürfen. Schon im Treppenhaus hatte ihm der ganze Streit entsetzlich leid getan. Die Nachbarn im hellhörigen Neubau, größtenteils Rentner und Vorruheständler, die den ganzen Tag nichts anderes zu tun hatten als zu tratschen, hatten gewiß alles mit angehört und würden in den nächsten Wochen genügend neuen Diskussionsstoff über ihn und seine Familie haben, dessen war er sich sicher.
Eigentlich sollte er heute seiner Frau einen Strauß Blumen kaufen und sie mit einem Küßchen um Entschuldigung bitten, ganz genauso wie in den guten alten Zeiten. Schließlich hatte sich Gerda die ganzen Jahre hindurch so liebevoll für ihre beiden Kinder Sandra und René aufgeopfert und deswegen sogar ihren Job als Sekretärin aufgegeben. Doch für Blumen reichten die verbliebenen hundert Euro, mit denen er noch bis zum Monatsende durchkommen mußte, einfach nicht aus. An die Mietzahlung, die er noch für den laufenden Monat zu zahlen hatte, durfte er gar nicht erst denken.
Und dann heute auch noch als krönende Bescherung dieses aufreibende Gespräch mit Herrn Schleicher, diesem rücksichtslosen jungen Beamten, der seit kurzem für seinen wohl als aussichtslos bewerteten Fall verantwortlich war, und der die Frechheit besaß, ihm, den gut zehn Jahre Älteren, den Vorwurf zu machen, er tue eben einfach immer noch viel zu wenig, um eine Beschäftigung zu finden.
Deutschland sei ja schließlich bedeutend größer als der Freistaat Sachsen, und man müsse eben in einer solch schwierigen Zeit wie der heutigen flexibel, dynamisch und mobil genug sein, um sich dort Arbeit zu suchen, wo es noch welche gebe.
Als er zu fragen wagte, ob er denn seine Frau und seine beiden Kinder im Stich lassen solle, schnitt ihm der freche Lümmel einfach das Wort ab und erwiderte kaltschnäuzig, andere wären noch zu weit gravierenderen Schritten bereit, wenn es darum ginge, wieder in den Arbeitsprozeß einzusteigen.
Am liebsten hätte er in diesem Augenblick den Schreibtisch dieses Grünschnabels umgeschmissen, dieses verbeamteten Sesselfurzers, der keine Ahnung davon hatte, was Arbeitssuche eigentlich bedeutete, und der auf seine arrogante und zynische Art selbst den geduldigsten Menschen zur Weißglut bringen konnte. Nur mit Mühe war es ihm gelungen, die erlittenen Demütigungen hinunterzuschlucken ohne aggressiv zu werden.
Völlig ratlos und deprimiert hatte er dann ein letztes Mal versucht, das Herz des stählernen deutschen Beamten zu bewegen:
„Können
Sie denn wirklich nicht helfen? Wenn ich in ein paar Monaten nur noch Hartz‑IV-Geld bekomme, dann weiß ich wirklich nicht mehr, wie ich meine Familie ernähren soll, wie ich die Miete für die Wohnung bezahlen …“.
„Ihre finanziellen Sorgen gehen uns hier gar nichts an, Herr Walther“, fiel ihm Schleicher genervt ins Wort, und kalt lächelnd zur Tür weisend, vor der noch eine ganze Gruppe weiterer potentieller Opfer auf ihre Abreibung wartete, fügte er noch unverhohlen grinsend hinzu: „Wenn Sie betteln wollen, dann müssen Sie schon zur neulich eröffneten städtischen ‚Tafel‘ oder zur Heilsarmee gehen.
Wir sind lediglich ein Arbeitsvermittlungscenter und können uns beim besten Willen nicht um die zahlreichen finanziellen bzw. psychisch bedingten Sonderwünsche unserer Kunden kümmern.
Der Nächste bitte.“
Noch immer lastete Enrico die erlittene Schmach tief auf der Seele. Ohne seine Bockwurst auch nur zur Hälfte aufgegessen zu haben, stürzte er sich nach draußen zum Bus.