Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

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Prolog

Pfarrer Gottfried Seelig wischte sich nach seiner kurzen Grabrede für den jungen Dahingeschiedenen die schweißnaße Stirn, und das, obwohl es bitterkalt auf dem Friedhof war. Wie die anderen Anwesenden der kleinen Trauergemeinde war auch er in einen dicken Mantel gehüllt. Ein roter Wollschal schützte seine Brust vor dem schneidenden Wind, der winzige Eiskristalle vor sich her blies und ihm seine mit Pelz gefütterte Pastorenmütze aus purem Mutwillen vom Haupt zu reißen suchte. Selbst das Wetter spielte heute verrückt, denn dem Kalender nach hätte es schon längst viel milder sein müssen, heute, am letzten Tag des Monats März.

Es hatte dem Geistlichen wirklich große Mühe bereitet, wenigstens eine Handvoll tröstender Worte in seiner Ansprache für den Verblichenen zu finden, dessen traurige Geschichte dem ganzen Dorf nur zur Genüge bekannt war. Weder der Gemeindehirte noch seine Gemeinde verspürten jedoch Mitleid mit Enrico Walther. Im tiefsten Inneren seines Herzens verfluchte der Pastor sogar den Unseligen, der seiner Meinung nach durch seinen schwachen und böswilligen Charakter und sein ehrloses, verwirrtes Handeln seine ganze Familie ins Unglück gestürzt hatte, ehe er sich selber …

Aber das gehörte nicht hierher. Schließlich war er nach einem ernsten und eingehenden Gespräch mit Dorfarzt Gustav Buschmann und Bürgermeister Wolfgang Kunze, der gleich neben ihm mit hochroten Gesicht stand, den eleganten schwarzen, glänzenden Hut nervös mit seinen behandschuhten Händen immer wieder gegen seine Lederjacke tippend, zu dem Entschluß gelangt, daß das Ableben des besagten Mißetäters nicht als Suizid zu werten und ihm deshalb ein ordentliches Begräbnis auf dem Gottesacker der evangelisch-lutherischen Dorfgemeinde zu gestatten sei. Für die benötigten Beerdigungskosten war glücklicherweise die Stadtverwaltung in A. aufgekommen, bei der der Verschiedene zum letzten Mal in seinem Leben einer anständigen Beschäftigung nachgegangen war und die ein ganz besonderes Interesse daran hatte, daß der vermaledeite Unruhestifter so schnell wie möglich und ohne jedes weitere Aufsehen zu erregen unter die Erde kam. Oberinspektor Horst Böck war sogar höchstpersönlich auf der Beerdigung erschienen, um einen Trauerkranz niederzulegen, der mit der von außergewöhnlicher Pietät zeugenden Aufschrift „Von deinen lieben ehem. Arbeitskollegen von der ABM und den Mitarbeitern des Ordnungsamtes im stillen Gedenken“ geziert war. Diesen schönen Spruch hatte sich sein Chef, Oberbürgermeister Kunibert Kuhn einfallen lassen. Der Kranz bildete übrigens den einzigen Schmuck, der im Umfeld der noch leeren Grabstatt zu entdecken war, sah man einmal von dem kleinen Sträußchen Blumen ab, das ein langhaariger bärtiger Typ, gekleidet mit einer für die schlechte Wetterlage viel zu dünnen Windjacke und verwaschenen Jeans, vor Beginn der Trauerveranstaltung niedergelegt hatte. Dieser hatte sich schon seit geraumer Zeit wegen des eisigen Windes in eine Heckenecke geflüchtet, um seine blaugefrorenen Finger zu massieren. Er war der einzige Mensch auf dem Friedhof, der echte Trauer um den Verstorbenen fühlte, der einzige, der Enrico nicht als Täter sondern als ein bemitleidenswertes Opfer einer pervertierten Gesellschaft betrachtete. Er war trotz seines ungepflegten Äußeren auch der einzige Anwesende, der ein wahrhaft edles Herz von auserlesenem Adel besaß, das noch fähig war, dem erduldeten Leiden seiner Mitmenschen nachzufühlen.

Pfarrer Seelig sprach ein kurzes Gebet, während Enricos Schwäger Herbert Kunert und Willy Pfeffke den Verstorbenen in sein kühles Totenbett hinabließen. Die beiden waren die einzigen Dorfbewohner, die sich nach schwieriger Überzeugungsarbeit durch Pfarrer und Bürgermeister dazu bereit erklärt hatten, als ehrenamtliche Grabträger ihrem verachteten Verwandten die letzte Ehre zu erweisen.
„Asche zu Asche und Staub zu Staub“, intonierte der Geistliche monoton, dem Dahingeschiedenen einen Klumpen gefrorenen lehmigen Boden erleichtert nachsendend, während drei Bläser des Posaunenchores einen Trauerchoral zum besten gaben, für den sie von Erhard Walther, dem mißmutig und vergrämt ausschauenden Vater Enricos, jeder 50 Euro versprochen bekommen hatten. Sie hatten das Geld als Arbeitslose bitternötig und freuten sich schon riesig auf die Runde Bier im Anschluß in „Hänels Bistro“, dem einzigen noch bezahlbaren heruntergekommenen Lokal im Dorf, in dem sich bisweilen sogar das Dorfoberhaupt blicken ließ, um Sympathien unter den sozialen Problemfällen im Ort zu sammeln. Während der Geistliche das abschließende Vaterunser hastig herunterleierte, um so schnell wie möglich in sein gut beheiztes Kaminzimmer im Pfarrhaus zurückkehren zu können, verließen bereits die ersten Trauergäste die Versammlung, darunter auch das Elternpaar Erhard und Erna Walther.

Wenige Minuten später lag der Gottesacker völlig gottverlassen da. Erneut begann es zu schneien, als sei auch die Natur daran interessiert, die Affäre so schnell wie möglich unter einer möglichst dicken Schneedecke zu verbergen. Da trat auf einmal der langhaarige Bärtige aus seiner Heckenecke hervor, sich andächtig vor dem noch immer offenen Grabloch niederknieend, das Enricos Schwäger zwei Minuten vorher schmählich im Stich gelassen hatten, um sich beim Glühwein in „Hänels Bistro“ aufzuwärmen.
„Leb' wohl, alter Kumpel, hab' dich wirklich gemocht“, murmelte Rudi von Wurstig nach geraumer Zeit stillen Gedenkens. Er nahm sein kleines Blumensträußchen und ließ es vorsichtig nach unten auf den mit Lehmbrocken bedeckten Sarg seines Freundes fallen. Dann verließ er als letzter den kalten Friedhof, von tiefer Trauer erfüllt, wie es sich für einen Mann von echtem Adel geziemt.