Stefan 'Sterni' Mösch

Enrico der Verlierer

Eine Erzgebirgstragödie

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Oberbürgermeister Kunibert Kuhn pflegte neben seinem beruflich-administrativen und ehrenamtlich-burschenschaftlichen Wirken noch ein weiteres mit Leidenschaft ausgeübtes Hobby: die Geschichtsforschung. Schon in seinen jugendlichen Jahren in Memmingen hatte er gerne in den städtischen Archiven gestöbert und war Mitglied des örtlichen Historikervereins geworden, für dessen Publikationsorgan er dereinst den Kopfschütteln provozierenden Aufsatz „Der Kampf der Stadt Memmingen gegen die Rattenplage im Mittelalter und seine Bedeutung für die Bekämpfung des Linksradikalismus in der Bundesrepublik Deutschland“ geschrieben hatte. Zu weiteren Veröffentlichungen war es dann leider nicht mehr gekommen, zum einen, weil einige allzu liberal eingestellte Historiker fortan seine ungewöhnlichen Forschungsansätze hartnäckig sabotierten, zum anderen, weil die akribische Vorbereitung seiner Politikerkarriere immer mehr Zeit in Anspruch genommen hatte.

Nachdem er sein politisches Amt im „kulturfernen nahen Osten“ angetreten hatte, gehörte zu seinen ersten administrativen Maßnahmen auch die Neuordnung des städtischen Archivs, in dem sich über die Jahrhunderte Unmengen von Staub auf den Aktendeckeln der dickbäuchigen Bände angehäuft hatten, deren Inhalt in handgeschriebener altdeutscher Schrift sowieso von niemandem entziffert werden konnte. Da Kuhn der einzige vor Ort war, der über paläographische Grundkenntnisse verfügte, fiel ihm natürlich zunächst einmal die Hauptarbeit bei der Durchforstung der schier endlosen Aktenberge zu. Oberinspektor Horst Böck war es schließlich, der ihm Rudolf Hirschel als Archivshilfskraft empfahl, angeblich weil dieser ein so versierter Kenner altdeutschen Schriftgutes war. Der junge Hirschel hatte es Kuhn von Anfang an ganz besonders angetan – der penibel gepflegte Hitler-Scheidel war ihm auf der Stelle sympathisch erschienen, wenn sich auch recht bald herausstellte, daß sich Hirschels historische Schriftkenntnisse in dem Kritzeln von NS-Runen in Fraktur für nationale Gedächtnisfeiern erschöpften. Mit großen Mühen gelang es dem Bürgermeister in allabendlichen Übungsstunden, dem jungen Nationalen schließlich das allernötigste Grundwissen der Archivalistik zu vermitteln, was diesem fortan ermöglichte, eine Reihe kleinerer Hilfsarbeiten im Archiv selbständig zu verrichten und seinen Chef regelmäßig über besonders interessant erscheinende Funde zu benachrichtigen. Dazu gehörte auf alle Fälle die alte Stadtordnung von 1741, deren Inhalt Kuhn in mühevoller Übersetzungsarbeit ins Neuhochdeutsche übertrug. Besonders spannend und auch für die Gegenwart lehrreich fand er die strengen Maßnahmen, die die Ehrwürdigen Mitglieder des Magistrats damals ergriffen hatten, um der steten Zunahme der Stadtarmut und des eng damit verbundenen Bettlerunwesens Einhalt zu gebieten. Die Ratsherren kamen nämlich in der bei dieser Gelegenheit neu formulierten Armenordnung zu dem Schluß, daß fortan das städtische Gesindel zu gemeinnützigen niedrigen Arbeiten herangezogen werden solle – und zwar unentgeltlich. Lediglich eine notdürftige Versorgung der Familien der Notleidenden mit Grundnahrungsmitteln war vorgesehen, bereitgestellt aus den Beständen des Gemeinen Kastens. Arbeitsunwilliges Pack sollte im neu errichteten Arbeitshaus unter Zwang und strenger Aufsicht zur Arbeit angehalten, Ortsfremde dagegen aber gnadenlos aus der Stadt vertrieben werden.

Kuhns soziales Gewissen schlug sogleich Feuer und Flamme, als er dies alles in den vergilbten Blättern nachlas. Diese alten Ratsherren erschienen ihm wirklich als echte Brüder im Geiste. Würden sie noch leben, dann wären sie gewißlich zuverlässige Mitstreiter des von ihm dominierten Stadtrats geworden. Außerdem hatte er es ja schon immer gewußt: Nur durch harte Arbeitszwangsmaßnahmen konnte man dem neuerdings wieder so gefährlich aufflammenden Schmarotzerunwesen in Stadt und Land Herr werden, und wollte einer partout nicht aus dem Sumpf des Untätigseins gezogen werden, dann mußte er eben mit derben Fußtritten dazu angehalten werden. Wenn auch das noch nicht helfen sollte, dann blieb als letztes Mittel nur noch die Entfernung des betreffenden Subjektes aus dem Stadtbild. Das traf mit Sicherheit für die Jugendlichen im besetzten Haus zu, bei denen ganz gewiß auch keine noch so gut gemeinte Disziplinarmaßnahme mehr fruchten konnte, sondern höchstens noch ein Arbeitslager oder das Zuchthaus.

Ausgerüstet mit genügend historischem Zaumzeug schritt der Bürgermeister also siegessicher zur Tat, tatkräftig unterstützt durch seine beiden modernen Bettelvögte Falko Schleicher und Horst Böck. Während der eine mit der Erfassung und Organisation der Einlieferung der stadtbekannten arbeitsscheuen Elemente beauftragt wurde, fiel dem anderen deren Einweisung in niedrige Arbeiten sowie ihre disziplinarische Überwachung und Korrektur (sprich: Bestrafung) zu. Seit dem offiziellen Beginn der Maßnahme am 1. September, die der Stadt übrigens keinen einzigen zusätzlichen müden Groschen an Zuschüssen gekostet hatte, da Kuhns Parteifreunde im sächsischen Landtag die finanzielle Absicherung des sozialen Projekts im Rahmen der Initiative „Aufbau Ost“ durchzusetzen vermocht hatten, konnte schon mit Stolz auf eine Reihe von Anfangserfolgen verwiesen werden. Oberinspektor Böck zeigte sich jedoch in einer vertraulichen Aussprache des „geheimen Triumvirats“ fest davon überzeugt, aus seinen Schutzbefohlenen noch höhere Leistungen herauspressen zu können. Am 15. Oktober hatte er deshalb einem Sondertrupp seiner Zwangsverpflichteten befohlen, das Flußbett der Bleiche von Steinen zu säubern, um diese für die Errichtung einer auch ökologisch hieb- und stichfest begründeten Begrenzungsmauer zu verwenden. Es erfüllte ihn mit großem Stolz, daß seine Idee gewiß auch bei den Grünen auf begeisterten Zuspruch gestoßen wäre, hätte es solche „Brokkolifresser“ noch in der Stadt gegeben. Das war seit einigen Jahren aber glücklicherweise nicht mehr der Fall, seitdem der einzige Umweltschützer in der Stadt – das letzte noch existierende Exemplar der Grünen Partei im Umkreis von fünf sächsischen Landmeilen – durch eine vom Landratsamt heimlich unterstützte Kampagne wegen extensiven Jauchens seines Biogartens mit Naturdünger aus der Stadt in die Lüneburger Heide vertrieben worden war.

Die für die Arbeit des Strafbataillons benötigten Gummistiefel wurden den Leidtragenden ausnahmsweise aus den Restbeständen des ehemaligen Kampfgruppendepots spendiert. Als Beschwerden wegen der zunehmenden Kälte des Wassers aufzukommen drohten, konterte Böck geschickt, daß sich die Betroffenen doch bloß warmzuarbeiten brauchten, um einer Erkältung zu entgehen. Ihr geliebter Herr Oberbürgermeister, dem sie ihre Delegierung hauptsächlich zu verdanken hätten, habe sicherlich früher im Westen als Pfadfinder noch viel schlimmere Dinge durchstehen müssen.
„Das ist also euer Dank für seine redlichen Bemühungen, euch zu resozialisieren und wieder zu nützlichen Mitarbeitern der Gesellschaft umzuerziehen. Schämt euch gefälligst!“
Das böse Wort „Kanaillen“, das ihm bereits auf den Lippen gebrannt hatte, verschluckte er gerade noch rechtzeitig, denn er bildete sich ein, auch ohne allzu grobe Schimpfereien seinen „Armenhaufen“ unter Kontrolle halten zu können. Er ahnte noch nicht, daß seine Herrschaft schon sehr bald empfindlich in Mitleidenschaft gezogen werden sollte.